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Virilio, Paul (1984); „Die Auflösung des Stadtbildes“

Paul Virilio macht sich in vorliegendem Text – aus einem architektonischen Blickwinkel – Gedanken über das Verschwinden oder gar die Auflösung der – ehemals baulich klar definierten – Grenzen von Großstädten. Die moderne Großstadt darf – wenn sie überhaupt eine geographische Position hat – nicht mehr an der klaren Unterscheidung Stadt/Land, Zentrum/Peripherie festgemacht werden.

Virilio führt dafür einerseits die Wucherung von Vorstädten, die Veränderungen im Transportwesen, die Entwicklung neuer Kommunikations- und Telekommunikationsmedien ins Treffen. Auf der anderen Seite fokussiert er aber auch auf die materialen Veränderungen im Städtebau (vom Verlust der „Opazität der Bau-Werkstoffe“[1] bis zu der Evolution einer „elektronischen Topologie“[2]).

Er beschreibt die veränderte Stadtarchitektur, die Dominanz technischer Kultur, eine vermeintliche Immaterialität ihrer Bestandteile, den Verlust eines handwerklich hergestellten Gewebes als Raum für eine Einschreibung städtischer Kultur, und letztendlich eine damit einhergehende Verschiebung und Erschütterung ehemals klar definierter und strukturierter Raum-Zeit-Beziehungen (Abhängigkeit des Tag-Nacht-Rhythmus von natürlichem Tageslicht, o.ä.).

Weniger offensichtlich als in der Antike, aber ebenso zwingend und trennend, brachten Einbrüche in den Einfriedungsbereich der Stadt eine unendliche Anzahl an Öffnungen hervor. „Wenn im 19. Jahrhundert das Attraktionspotential der Stadt dem landwirtschaftlichen Raum seine (kulturelle und gesellschaftliche) Substanz entzogen hat, so hat Ende des 20. Jahrhunderts wiederum der städtische Raum seine geopolitische Relevanz ausschließlich an Systeme verloren, deren technologische Intensität unablässig die gesellschaftlichen Strukturen zerstört“[3].

Mit diesen gesellschaftlichen Strukturen, deren wir verlustig gehen, meint Virilio die Gebundenheit von Personen an fix positionierte Produktionsstätten, direkten menschlichen Augenkontakt und städtischen Sichtkontakt. Städte verlieren ihren Wert als regionale Zentren. Und diesen Prozess hält Virilio für einen „Vorläufer der ‚postindustriellen’ Entstädterung, die jedes der entwickelten Länder erfassen wird“[4].

Durch eine plötzliche optische Konzentration – durch das Interface des Bildschirms – wird alles an einem Platz vereint, der nichts weiter ist als ein ortloser Ort; „so kommt die Ausschaltung des natürlichen Reliefs und der zeitlichen Distanz als Übertragungshindernis jeglicher Ortung und Positionsangabe zuvor“[5]. Der Raum verliert seine Funktion, die er inne hatte um zu verhindern, dass alles am selben Platz ist.

Technologische Mittel wie Telefonkonferenzen, Internet oder Fernsehen ermöglichen es, Abstand zu halten und zugleich am selben Platz zu sein. Virilio schreibt von „Bildröhre und Bildschirm, auf dem sich Schatten bewegen, welche die Gespenster einer im Verschwinden begriffenen Gemeinschaft vorstellen“[6] und erläutert im selben argumentativen Atemzug, dass Simulation von Realität die unmittelbare Wahrnehmung von Wirklichkeit ersetzt. In direktem Anschluss daran attestiert er der Gegenwart eine „Krise eines von der Renaissance geerbten Diskurses oder Darstellungsmodus, der auf der Annahme beruhte, dass es eine allgemeine Fähigkeit gibt zu sprechen, zu beschreiben und das Wirkliche in Texte einzuschreiben“[7]. Er meint damit den Verlust der Fähigkeit des Erzählens, und damit des Erfassens größerer Zusammenhänge (in einer sich gegenseitig beeinflussenden Wechselwirkung); allesamt Vorzeichen „des Zeitalters der Desinformation“[8].

Der substanzielle, homogene Raum, der Raum Euklids weicht einem akzidentiellen, heterogenen Raum, der von Teil(ung)en und Brüchen bestimmt wird. Die Auflösung optischer Orientierungspunkte erlauben zwar alle möglichen Transmigrationen und Transfigurationen; alles auf Kosten städtischer Topographie.

„Von der Ästhetik der Erscheinung eines ‚stabilen und dauerhaften Bildes’, das gerade durch seine Statik gegenwärtig ist, zu einer Ästhetik des Verschwindens eines ‚instabilen Bildes’, das nur in seiner […] Flüchtigkeit gegenwärtig ist, haben wir einer regelrechten Zertrümmerung der Formen der Darstellung beigewohnt“[9].

Das gemeinsame Produkt fortschrittlicher Technologien ist die Gestaltung einer künstlichen Raumzeit. Das Fazit, das Virilio für die Architektur zieht, ist, dass diese sich nicht wie bisher an Geologie und Tektonik, sondern an den Leistungen von Spitzentechnologien orientieren muss, und das schon tut.



[1] Virilio, Paul; Die Auflösung des Stadtbildes; in: Dünne, Jörg/ Günzel, Stephan; Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften; Suhrkamp Taschenbuch Verlag; Frankfurt am Main, 2006; S. 262.

[2] Ebenda, S. 262

[3] Ebenda, S. 265

[4] Ebenda, S. 265

[5] Ebenda, S. 266

[6] Ebenda, S. 267

[7] Ebenda, S. 269

[8] Ebenda, S. 269

[9] Ebenda, S. 270

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