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Foucault, Michel (1967); „Von anderen Räumen“

Foucault beginnt seinen fundamentalen Text zum Raum mit einer prinzipiellen Überlegung: War das 19. Jahrhundert noch eine Epoche der Geschichte – geprägt von Themen wie Entwicklung, Stillstand, Krise, Zyklus oder auch Akkumulation des Vergangenen – so befindet sich die Gegenwart in einem Zeitalter des Raumes. Für Foucault leben wir in einer Epoche der Gleichzeitigkeit, des Aneinanderreihens, der Nähe und Ferne gleichermaßen, des Nebeneinanders als auch des Zerstreuten. „Der Strukturalismus oder zumindest das, was man unter dieser recht allgemeinen Bezeichnung zusammenfasst, ist der Versuch, zwischen Elementen, die über die Zeit verteilt sein mögen, eine Reihe von Beziehungen herzustellen, die sie als ein Nebeneinander, als ein Gegenüber, als etwas ineinander Verschachteltes, kurz als Konfiguration erscheinen lassen“[1].

Insofern ist Raum – für Foucault – das Grundaxiom der heutzutage stattfindenden Bemühungen Theorien und Systeme zum Verständnis der Einbettung gesellschaftlicher Fragen am Schnittpunkt der Raum-Zeit Knotenpunkte zu finden.

Jedoch – und das ist zentral zu beachten – stellt diese Axiomatik keine nennenswerte Neuerung dar, sondern ist durch die Zeit (der gesellschaftlichen Geschichtsentwicklung) zu beobachten. In diesem Sinne hat Raum selbst eine Geschichte, die sich nur in ihren spezifischen Ausformungen unterscheidet. Foucault unternimmt im vorliegenden Text eine grobe Skizzierung dieser „Geschichte des Raumes“.

Der „Raum der Lokalisierung“ prägte das Mittelalter. Heilige und Profane Örtlichkeiten[2] prägten die hierarchisierte Menge an Räumen. Gewaltsam deplazierte Orte des himmlisch Sakralen, wechselten sich ab mit örtlichen Raumzuschreibungen in denen die Dinge des menschlich ungebundenen ihren natürlichen Platz und bzw. auch ihre natürliche Ruhe hatten.

Dieser lokalisierte Raum öffnete sich erst mit Galilei. Wobei die bahnbrechendste und für die damalige Zeit verstörendste Erkenntnis weniger die Verrückung und Wiederentdeckung des Heliozentrismus war, sondern vielmehr die damit einhergehende theoretische Konstitution eines unendlichen und zugleich unendlich offenen Raumes, in dem sich der lokalisierte, örtlich ruhende festgeschriebene Raum zugunsten einer ausgedehnten Räumlichkeit auflösen musste. Insofern tritt seit dem 17. Jahrhundert die Ausdehnung des Raumes an die Stelle des lokalisierten Raumes.

Heutzutage bzw. seit Beginn der Moderne wurde die Ausdehnung zugunsten der Lage von Räumen abgelöst. „Die Lage wird bestimmt durch Nachbarschaftsbeziehungen zwischen Punkten oder Elementen, die man formal als mathematische Reihen, Bäume oder Gitter beschreiben kann. […] Wir leben in einer Zeit, in der sich uns der Raum in Form von Relationen der Lage darbietet“[3].

Foucault denkt Raum immer auch im kausalem Zusammenhang und Einbindung der Zeit. Trotzdem ist seiner Einschätzung nach die heutige Beunruhigung, die beiden Begriffe betrifft vielmehr eine Problematik die dem Raum betrifft. Grund allen Übels – so Foucault – war/ist die verpasste Entsakralisierung allen Räumlichens. Auch wenn es zum Beispiel bei Galilei und manch anderen diesbezügliche Ansätze gegeben hat, wurde eine umfassende Entsakralisierung des Raumes niemals durchgehalten. „Von Gegensätzen, die wir als Gegebenheiten hinnehmen, etwa zwischen privatem und öffentlichem Raum, zwischen familiärem und gesellschaftlichem Raum, zwischen dem Raum der Kultur und dem der Nützlichkeit, zwischen dem Raum der Freizeit und dem der Arbeit. All diese Räume unterliegen immer noch einer blinden Sakralisierung. […] [D]ie Beschreibungen der Phänomenologen haben gezeigt, dass wir nicht in einem leeren, homogenen Raum leben, sondern in einem Raum, der mit zahlreichen Qualitäten behaftet ist und möglicherweise auch voller Phantome steckt“[4].

Diese Analysen – die fundamental für das heutige „moderne“ Denken sind – gelten vor allem dem „inneren Raum“. Foucault konzentriert sich in den weiteren Ausführungen aber auf den „äußeren Raum“ und meint damit jenen Raum der uns umgibt, den wir vermeintlich mit Qualitäten unseren Lebens, unseren Erkenntnissen usw. füllen können. Dieser Raum ist seinerseits – kontrovers zum inneren Raum – homogen. „Wir leben nicht in einer Leere, die verschiedene Farben annähme. Wir leben vielmehr innerhalb einer Menge von Relationen, die Orte definieren, welche sich nicht aufeinander reduzieren und einander absolut nicht überlagern lassen“[5].

In diesen äußeren Räumen der Relationen sind für Foucault gerade jene Orte interessant, die mit allen anderen Orten in Verbgindung stehen, „aber so, dass sie alle Beziehungen, die durch sie bezeichnet, in ihnen gespiegelt und über sie der Reflexion zugänglich gemacht werden, suspendieren, neutralisieren oder in ihr Gegenteil verkehren“[6].

Diese Räume lassen sich nach Foucault in zwei Gruppen einteilen:

1. „Das sind erstens Utopien. Utopien sind Orte ohne realen Ort. Es sind Orte, die in einem allgemeinen, direkten oder entgegengesetzten Analogieverhältnis zum realen Raum der Gesellschaft stehen. Sie sind entweder das vervollkommnete [sic.] Bild oder das Gegenbild der Gesellschaft, aber in jedem Fall sind Utopien ihrem Wesen nach zutiefst irreale Räume“[7].

2. Dann gibt es in unserer Zivilisation wie wohl in jeder Kultur auch reale, wirkliche, zum institutionellen Bereich der Gesellschaft gehörige Orte, die gleichsam Gegenorte darstellen, tatsächlich verwirklichte Utopien, in denen die realen Orte, all die anderen realen Orte, die man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden. Es sind gleichsam Orte die außerhalb aller Orte liegen, obwohl sie sich durchaus lokalisieren lassen. Da diese Orte völlig anders sind als all die Orte, die sie spiegeln und von denen sie sprechen, werde[n] […] sie im Gegensatz zu den Utopien als Heterotopien bezeichne[t]“[8].

Diese beiden unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Gruppen an Räumen finden ihre Verbindung im Virtuellen. Für Foucault kann der virtuelle Raum als Verbindungsglied der beiden reflexiven Raumgruppen durch den Spiegel – symbolisierend – hergestellt werden. Der Spiegel symbolisiert sowohl das irreale Utopische wiewohl zugleich auch das Reale Heterotopische in der Existenz des materiellen Spiegels (als Metapher) an sich. „Der Spiegel funktioniert als Heterotopie, weil er den Ort, an dem ich bin, während ich mich im Spiegel betrachte, absolut real in Verbindung mit dem gesamten umgebenden Raum und zugleich absolut irreal wiedergibt, weil dieser Ort nur über den virtuellen Punkt jenseits des Spiegels wahrgenommen werden kann“[9].

Foucault beginnt im vorliegenden Text den Begriff Heterotopie genauer zu untersuchen und zu beschreiben. In dieser Zusammenfassung wird jedoch darauf verzichtet. Nur so viel: Für Foucault gibt es 6 zentrale Grundsätze[10] nach denen Heterotopie ihre räumliche Wirksamkeit in der Gesellschaft als äußere Kraft nach Innen entfalten kann. Materielle Gegebenheiten eröffnen den Raum, den die Utopie braucht um wirksam zu werden oder besser um aus dem Virtuellen heraus mit dem Realen in Verbindung treten zu können.



[1] Foucault, Michel (1967): Von anderen Räumen. In: Dünne, Jörg / Günzel, Stephan (Hg.) (2006): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Suhrkamp: Frankfurt/Main, S. 317.

[2] Für ein tiefergehendes Verständnis des Heiligen und Profanen vgl. die beeindruckenden Arbeiten zu diesem Thema von Eliade, Mircea (1998): Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen. Insel Verlag: Frankfurt und Eliade, Mircea (1998): Die Religionen und das Heilige. Elemente der Religionsgeschichte. Insel Verlag: Frankfurt.

[3] Foucault, Michel (1967): Von anderen Räumen. In: Dünne, Jörg / Günzel, Stephan (Hg.) (2006): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Suhrkamp: Frankfurt/Main, S. 318.

[4] Ebenda, S. 319

[5] Ebenda, S. 319 f.

[6] Ebenda, S. 320

[7] Ebenda, S. 320

[8] Ebenda, S. 320

[9] Ebenda, S. 321

[10] Die sechs Grundsätze der Heterotopie, vgl. ebenda, S. 321 ff.

1 Gedanke zu „Foucault, Michel (1967); „Von anderen Räumen““

  1. Sehr geehrter Herr Neugebauer,

    gerade die 6 Grundsätze der Heterotopie sind doch das interessante an diesem Text, weil sie die Anwendbarkeit des Konzepts versprechen.
    Es wäre nett, wenn diese nachgetragen werden könnten.

    mfg
    Michel

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