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Schmarsow, August (1894); „Das Wesen der architektonischen Schöpfung“

Der vorliegende Text – Schmarsows Leibziger Antrittsvorlesung von 1893 – ist ein disziplinäres Gründungsdokument, um Architektur aus den Niederungen einer reinen formalen Baudisziplin hin zu einer freien Kunstwissenschaft zu erheben. Schmarsow begründete dadurch eine neue Epoche der Architektur, die sich seit damals in die Riege der „Schönen Künste“ als ein tektonisches Kunsthandwerk einreihen lässt.

Ausgangspunkt Schmarsows Überlegungen ist die leibliche Raumwahrnehmungsmöglichkeit: Sie begründet Raumgefühl und Raumphantasie eines Subjektes. Und sie ist zugleich auch der Urgrund für die Kunst der Raumgestaltung – der Architektur: kurz „Raumgestalterin“[1]

Schmarsow huldigt die schwesterliche Verwandtschaft „seiner Kunst“ mit mathematischen und psychologischen Raumwissenschaften als Ausgangspunkt jeder Raumgestaltung, streicht aber zugleich die zentrale fundamentale Differenz heraus: Die Wissenschaft denkt in möglichst abstrakten und deskriptiven Formen, unternimmt aber keinerlei Versuche „schaffende“ Aspekte aufzubringen. „Architektur und Mathematik [gehen] unzweifelhaft Hand in Hand. Als Ideal schwebt immer die reine Form vor, wie sie sein soll, deren Gesetze die Raumwissenschaft ergründet, während die Raumkunst, die ihre Gestaltung in wirklichem Materiale durchführt, auch mit den Faktoren der natürlichen Umgebung, den physischen Gesetzen der Wirklichkeit sich abfinden muß [sic.]. Aber in beiden waltet das Grundgesetz des Menschengeistes, kraft dessen er auch in der Außenwelt Ordnung sieht und Ordnung will. […] Die Architektur ist also Raumgestalterin nach den Idealformen der menschlichen Raumgestaltung“[2].

Somit wird der architektonische Raum über die Raumerfahrung eines in seiner  anthropologischen und historischen Grenzen erfasstes Subjekt rekonstruiert. Schmarsows Raum erhält dadurch eine notwendige doppelte Raumbetrachtungsmöglichkeit: Im Ausgangspunkt durch die Person des architektonischen Erfinders sowie im Endziel durch die Person des Betrachters.

Dadurch lässt sich eine architektonische Innen- sowie Außenseite des „umschlossenen“ Subjekts erkennen. „Dies Verhältnis erfährt indes sofort einen fühlbare Umschwung,sowie das Subjkt aus dem Innenraum heraustritt, und das Äußere des Raumgebildes überschaut. […] Das ganze Raumgebilde erscheint ihm nun als ´Körper außer ihm´ im allgemeinen Raum, und damit verschieben sich alle Grundsätze für den Außenbau, im Vergleich zu dem Innenraum“[3].

Die Kunst der Architektur ist entgegen den Abstraktionsmöglichkeiten von (Raum)Wissenschaften immer an konkrete leibliche Raumwahrnehmungsmöglichkeiten des Menschen gebunden. Dadurch entsteht nicht nur die Faszination die Bau(kunst)werke auf Menschen ausüben können, sondern darin begründet sich seine Essenz – sein Mythos.

Schmarsow bringt das prägnant auf den Punkt: „Die Geschichte der Baukunst ist eine Geschichte des Raumgefühls“[4].


[1] Schmarsow, August (1894): Das Wesen der architektonischen Schöpfung. In: Dünne, Jörg / Günzel, Stephan (Hg.) (2006): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Suhrkamp: Frankfurt/Main, S. 470

[2] Schmarsow a.a.O. S. 472

[3] Schmarsow a.a.O. S. 475

[4] Schmarsow a.a.O. S. 482

1 Gedanke zu „Schmarsow, August (1894); „Das Wesen der architektonischen Schöpfung““

  1. Lotman versucht in seinem Text dem Raum der Literatur und Kunst nachzugehen. Lotmans Abhandlung ist insofern von Relevanz als er den „symbolischen Raum der Literatur nicht mehr ausgehend vom originären Zentrum eines reflexiven Erfahrungssubjekt

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