Reiner Keller geht nach einer kurzen Skizzierung der Schwachstellen und verkürzten Instrumentarien der den Sozialwissenschaften zur Verfügung stehenden Diskursanalyse sofort daran, eine neue Herangehensweise an Diskurse auszuarbeiten. Er schlägt „einen anderen ‚Ausweg’ aus der skizzierten Problemkonstellation vor: die Übersetzung des diskurstheoretischen und diskursanalytischen Programms in die (Hermeneutische) Wissenssoziologie und, damit einhergehend, die Nutzung methodischer Werkzeuge aus der qualitativen Sozialforschung.“[1]
Im vorliegenden Text nimmt er Anleihen an geschichtswissenschaftlichen Zugängen von Achim Landwehr und Philipp Sarasin, baut sein Gedankengebäude aber auch auf dem Fundament der Kritik an ihren Perspektiven auf. Weiters lehnt er sich verstärkt an Foucault`s Blickwinkel bzgl. Diskursanalyse an, lässt aber auch diesen nicht unangetastet. Zum Abschluss beschäftigt er sich durchaus praxisorientiert mit möglichen methodischen Arbeitsschritten, um seine theoretischen Vorüberlegungen für Sozial-, vor allem aber Geschichtswissenschafter anwendbar zu machen.
[1] Keller, Reiner; S.12
Die Herangehensweise der historischen Diskursanalyse fokussiert sich auf „Sachverhalte, die zu einer bestimmten Zeit in ihrer sprachlichen und gesellschaftlichen Vermittlung (…) als gegeben anerkannt werden“[1]. Es geht ihr um die Geschichte von Wissens-, Wirklichkeits- und Rationalitätsstrukturen in deren jeweiligen gesellschaftlichen Kontexten. Texte sollen nicht einfach als kontrollierte Formulierung spezifischer Intentionen ihres Autors angenommen werden. Es stellt sich die Frage, wie Aussagen existieren, welche Bedeutung ihre Existenz hat, und welche Spuren sie hinterlassen (haben). Die von Landwehr vorgeschlagene Methodik zur Beantwortung dieser Fragen ist eine sehr stark sprachwissenschaftlich dominierte (Konzentration auf Stilmittel, Textstruktur, gestalterischen Aufbau, Rhetorik, etc.), und darin sieht Keller eine gewisse Schwäche.
Sarasin hingegen verzichtet fast vollständig auf die Ausführung methodisch-praktischer Instrumentarien, argumentiert Diskursanalyse viel mehr als theoretisch-philosophische Haltung denn als „lernbare“ Methode[2]. Als zentrales Element bei Sarasin – in Abgrenzung zur hermeneutischen Kulturgeschichte – macht Keller die Stellung des Subjekts (subjektives Meinen und Glauben) im Kontext des im Zentrum des Forschungsinteresses stehenden historischen Zusammenhanges aus. Wie stellen sich Materialität und Geregeltheit von Diskursen als konventionalisierte Aussageweisen einerseits, die „Einnahme von Subjektpositionen (…) als dynamischer Faktor andererseits“[3] dar? Also: Konzentration auf die historische Materialität der Strukturen der Produktion von Sinn. Aber: Ohne die Stellung des Subjekts außer Acht zu lassen, und ohne sich vollkommen von interpretierenden Momenten zu befreien.
Alles in allem wird die Auffassung von Texten als koheränte Sinneinheit abgelegt. Hinzu kommt dafür die Integration der Komponente Handlungsfähigkeit, in Bezug auf Diskurs-Konzepte von Lacan und Laclau/Mouffe, ganz im Gegensatz zur rein strukturalistisch dominierten Betrachtung von Diskurs bei Foucault.
Keller unterstreicht vor allem die Einschätzung, dass Diskursanalyse und –theorie keine Methode sind. Er schlägt dementsprechend vor, „Diskursanalyse als Forschungsprogramm zur Analyse gesellschaftlicher Wissensverhältnisse und Wissenspolitiken zu begreifen“[4]. Zu diesem Zwecke könne man auf verschiedene theoretische Positionen zugreifen und ebenso sich unterschiedlicher empirischer Forschungsmethoden bedienen. Aber wie soll eine empirische Diskursforschung aussehen, die sich nicht rein auf die sprachliche Ausgestaltung von Texten, sondern vielmehr auf das Wie bzgl. der Produktion und Zirkulation von Wissen abzielt? Keller versucht seine Antwort darauf in einen wissenssoziologischen Rahmen einzubetten.
In der Wissenssoziologie werden Diskurse als Praktiken verstanden, die systematisch jene Gegenstände bilden, von denen sie sprechen. Die Analyse soll zutage bringen, wie Ordnungen durch Kommunikation konstruiert werden. Prozesse der sozialen Konstruktion und die Vermittlung von Deutungs- und Handlungsweisen sollen rekonstruiert werden; und zwar uner Beachtung der Ebene von institutionellen Feldern, Organisationen und sozialen Akteuren. Außerdem interessiert sich die Wissenssoziologie dafür, welche gesellschaftlichen Wirkungen diese Prozesse haben. In Anlehnung an Foucault findet die subjektive Erfahrung nur als Produkt des – in gesellschaftlichen Praxisfeldern und Macht- bzw. Wissensregimen eingebetteten – Diskurses Beachtung. Subjektivität ist also keine konstituierende Komponente von Diskurs. Unter anderen baut die wissenssoziologische Diskursanalyse auf folgenden Grundannahmen auf:
– Diskurse sind strukturierende Praktiken gesellschaftlicher Wissensverhältnisse, denen gemeinsame Strukturen zugrunde liegen.
– Diskurse müssen von diskurs-externen Praktiken abgetrennt gesehen, also nach außen hin abgegrenzt werden.
– Akteure, Kämpfe, Strategien und Taktiken in und zwischen Diskursen prägen diese und müssen berücksichtigt werden.
Die stärkere Einbeziehung des handlungs- und prozessorientierten Blickwinkels auf die Akteursebene gegenüber Foucault, verdankt die Wissenssoziologie laut Keller Bergers und Luckmanns Wissenstheorie.
Diskurs ist ein zu Forschungszwecken hypothetisch unterstellter Strukturierungszusammenhang. Die Strukturen liegen als Komplexe aus instruierenden Regeln und materialen Ressourcen konkreten Handlungen zugrunde, und werden von diesen im selben Atemzug reproduziert. Diskurse stellen normative Regeln für die Art und Weise der Aussageproduktion zur Verfügung, bieten Signifikationsregeln für die diskursive Konstitution der Bedeutung von Phänomenen an und stellen Handlungsressourcen und materiale Ressourcen für Produktion und Verbreitung von Bedeutungen bereit[5].
Die zur Verfügung gestellten Regeln sind viel mehr praktisch-pragmatisch interpretierte Spielanleitungen als starre Vorschriften (was einem Determinismusvorwurf den Wind aus den Segeln nimmt). Soziale Akteure erzeugen konkrete Aussagen material und werden dabei von der strukturierten und strukturierenden Struktur angeleitet.
Welche Fragen kann/muss die wissenssoziologische Diskursanalyse nun stellen, um zu einem Ergebnis zu kommen, was die Gestaltung der diskursiven Strukturierung symbolischer Ordnungen und des sozialen Wandels betrifft?
– Wie entwickelte sich der Diskurs im historischen Wandel?
– Wer oder was waren/sind die relevanten Akteure, Praktiken und Ressourcen?
– Was sind relevante Verbindungen/Beziehungen zu anderen Diskursen?
– Welche Wissensfelder, Praxisfelder und Machteffekte konstituier(t)en sich im Kontext des Diskurses?
Keller sieht enorme Vorteile der angeführten wissenssoziologischen Herangehensweise insbesondere in Bezug auf die Anschlussfähigkeit an bestehende und ausgereifte Methoden der qualitativen Sozialforschung.
Es sollen also anhand sozialwissenschaftlicher Methodik, kommunikative, also soziale Erzeugungsprozesse und Erscheinungsformen der gesellschaftlichen Wissensvorräte in den Mittelpunkt der Analyse gestellt werden. Dabei wird man – so ist Keller überzeugt – nicht darum herumkommen, die Genres und Erzählformen, Symbolisierungen und Bauelemente, historischen Argumentations- und Zitierlinien, so wie Verfahren der Perspektiven-, Erwartungs- und Konsenskonstruktionen zu analysieren. Anders sind konsistentes Beschreiben, auslegendes Verstehen und Erklären sozialer Orientierung, sozialen Handelns und sozialer Handlungsprodukte nicht möglich.
Keller macht vier Möglichkeiten der inhaltlichen Strukturierung von Diskurs fest:
- Zuordnung von Bedeutung im Rahmen sozialer und natürlicher Umwelt durch Diskurs; Ordnung durch Deutungsmuster
- Klassifikation(en) von Phänomenen durch Diskurs; soziale Typisierungsprozesse
- Konstruktion von Sachverhalten durch Diskurs; Einsatz und Definition von Begriffen
- Verbindung und in-Beziehung-Setzen von 1., 2., und 3. in Form von narrativen Strukturen; Verknüpfung disparater Zeichen und Aussagen
In Bezug auf das konkrete Arbeiten am Datenmaterial schlägt Keller vor, die Auswahl eben dieses unter Berücksichtigung der Prinzipien der Grounded Theory zu treffen. Die Selektion solle sich in jedem Fall aus dem Forschungsprozess heraus selbst begründen. Der Analyse eines als bedeutsam erscheinenden Dokuments folgt die vergleichende Analyse 1. eines möglichst gegensätzlichen und 2. eines möglichst ähnlichen Aussageereignisses. Damit sollten einerseits das Gesamtspektrum fassbar, und andererseits der erfasste Teilbereich möglichst genau und vollständig rekonstruierbar gemacht werden. Von da ausgehend, wird die Analyse solange fortgeführt, bis offensichtlich keinerlei weiterer Erkenntnisgewinn erwartbar ist.
Kritik
Keller bietet eine Perspektive an, die den gegenwärtigen Stand der Diskursanalyse genau so in seine Überlegungen einbezieht, wie er an eben den vorherrschenden Theorieansätzen und Auffassungen von Diskurs und dessen Analyse Anleihen nimmt und die seiner Meinung nach anwend- und nutzbaren Komponenten konsequent und gut argumentiert in seine Vorschläge integriert. Die vorhandenen Ansätze nicht einfach nur verteufelnd, entnimmt er ihnen Komponenten, die er zu einem stimmig klingenden Konstrukt zusammenfügt, und so eine völlig andere Herangehensweise anbietet.
Dieses Konstrukt beinhaltet eine gut sortierte Aufarbeitung der dominanten diskurstheoretischen Überlegungen aus der Geschichtswissenschaft, von Foucault, sowie Laclau/Mouffee und anderen. Die anschließende Überleitung in das Feld der wissenssoziologischen Diskursanalyse macht dann den wichtigen Schritt, der Sozialwissenschaftern ein scheinbar kompletteres Instrumentarium zugängig macht, vor allem aber mithilfe etablierter empirischer Methoden (und deren direkter Anschlussfähigkeit!) dieses auch einfacher anwendbar erscheinen lässt. Diese Methodik lässt hoffen, die enorme Komplexität eines Diskurses, seine Einbettung in den jeweiligen historischen Kontext und die relevante Diskurslandschaft, sowie seine gesellschaftlichen Wirkungen erkenntnissteigernd erfassen zu können.
Trotz allem, Skepsis bleibt vor allem bei Kellers nicht ganz ausgeblendeter Konzentration auf sprachwissenschaftliche Instrumentarien oder Eigenschaften, der das Untersuchungsobjekt repräsentierenden Aussageereignisse angebracht. Betrachtet man die vorgeschlagene Anwendung empirischer Instrumente, weisen diese eine unübersehbar stark linguistische Tendenz auf. Vor allem die Wertung und Relevanz des Einflusses von Materialität auf den Diskurs, oder umgekehrt, scheinen nicht ganz geklärt; die Feststellung dieser Lücke kann wohl direkt an die Kritik an der sprachwissenschaftlichen Dominanz Anschluss finden. Einer starken Fokussierung auf die sprachliche Ausformung der Aussageereignisse ist nicht unbedingt eine idealistische Auffassung von Diskurs (Diskurs wirkt auf die Strukturen) immanent; dennoch lässt es die Vermutung zumindest unwidersprochen im Raum stehen, und trägt nicht zur Beantwortung der Frage nach der Gewichtung der Materialität bei. Vielleicht lässt es Keller einfach nur jedem Wissenschafter offen, sich über dieses Verhältnis selbst klar werden zu müssen.
Alles in allem scheint der vorliegende Text einige interessante Aspekte der gegenwärtigen Diskurstheorie neu aufzurollen, einer neuen Betrachtung zu unterziehen und sie in einen völlig ungewohnten Kontext zu stellen. Die Anwendbarkeit scheint nicht nur gegeben, sondern wird ergänzend noch relativ anschaulich und leicht nachvollziehbar dargestellt. Ob allerdings Sozial- und Gesellschaftswissenschafter sie ebenso erfolgsversprechend für ihre Forschungsanliegen nutzbar machen können, wie eben Geschichtswissenschafter, bleibt offen.
Projektrelevanz
Der vorliegende Text von Reiner Keller bietet auf den ersten Blick einen kurzen Überblick über Stärken und Schwächen der dominanten diskursanalytischen Herangehensweisen. Darauf aufbauend, können wir ganz einfach mit mehr Vorwissen an die Lektüre eben dieser herangehen. Der Kellersche Blick wird uns außerdem zu einem gewissen Maße helfen, diese auf ihre Anwendbarkeit hin zu lesen und zu verstehen. Abgesehen davon, bietet Keller ganz einfach ein mögliches Instrumentarium an, dass so oder so ähnlich wie vorgeschlagen zur Anwendung kommen könnte. In jedem Fall aber macht er auf nicht zu vernachlässigende, unbedingt zu beachtende Komponenten und Verschränkungen eben dieser Komponenten mit einem vorhandenen Forschungsinteresse aufmerksam.
Wir werden uns darüber klar werden müssen, was Diskurs – unserer Einschätzung nach – ist, und welche gesellschaftlichen Auswirkungen er hat, wenn er welche hat. In wie weit wirken die Strukturen auf ihn, wirkt Materialität auf ihn und vice versa? Ist Diskurs nicht mehr als Ausdruck, Formulierung vorhandener Strukturen, Machtverhältnisse und historischer Genealogie? Wirkt Diskurs zurück auf die Strukturen, oder reproduziert er sie maximal? Ist Diskurs eine konstituierende Komponente der Gesellschaft? Welche Analyseebenen (Akteure, Machtkonstellationen, gesellschaftliche Einbettung, historische Relevanz, etc.) müssen einbezogen und wie stark gewichtet werden? Was genau ist der Untersuchungsgegenstand? Gibt es einen eigenen „Raum“-Diskurs, oder ist Raum nur eine Komponente eines/mehrerer Diskurse/s? Und: ist Raum vielleicht sogar eine Diskurs-strukturierende Komponente und muss dementsprechend von (zumindest) zwei Blickwinkeln aus in die Analyse miteinbezogen werden?
Keller, Reiner; Wissen oder Sprache? Für eine wissensanalytische Profilierung der Diskursforschung; in: Eder, Franz X. (Hrsg.); Historische Diskursanalysen. Genealogie, Theorie, Anwendungen; Verlag für Sozialwissenschaften; Wiesbaden, 2006: S. 11 – 32
[1] Landwehr, Achim; in: Keller, Reiner; S.13
[2] Vgl. Keller, Reiner; S. 15
[3] Keller, Reiner; S. 15
[4] Keller, Reiner; S. 16
[5] Vgl.: Keller, Reiner; S. 20