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Kant, Immanuel; Drei Texte über den Raum

Vorweg ein Satz in eigener Sache: Es ist immer wieder ein ergiebiges – wenn auch zeitraubendes und durchaus anstrengendes – Vergnügen sich mit Texten von Immanuel Kant auseinander zusetzen. Im vorliegenden Fall versuche ich drei Arbeiten von Kant zum Begriff Raum inhaltlich zusammen zu fassen: (1) Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raum (1768); (2) Von dem Raume (1770); (3) Was heißt: sich im Denken orientieren? (1786). Zentral ist in allen drei Texten – neben der grundsätzlichen Auseinandersetzung mit dem Raum an sich –, dass Kant keinen rein naturwissenschaftlichen Zugang zur Thematik wählt, sondern transzendental argumentiert und dadurch versucht die Bedingungen der Möglichkeit von Aussagen über die Natur zu bestimmen.

Kant beginnt seine Ausführungen zur Begrifflichkeit Raum ausgesprochen plastisch. Ein Körper, gleich wie der von dem ausgegangen wird, ist sein „inkongruentes Gegenstück“. Das Gegenstück vom Gegenstück ist dann wiederum zwangsweise Kongruent zum Ausgangskörper. Als Beispiel und Anschauung dient Kant die rechte Hand bzw. die Linke als dessen inkongruentes Gegenstück. „Man fälle aus allen Punkten ihrer Oberfläche [der Menschenhand; Anm. d. Verf.] auf eine ihr gegenüber gestellte Tafel Perpendikellinien und verlängere sie ebenso weit hinter derselben, als diese Punkte vor ihr liegen, so machen die Endpunkte der so verlängerten Linien, wenn sie verbunden werden, die Fläche einer körperlichen Gestalt aus, die das inkongruente Gegenstück der vorigen ist, d. i. wenn die gegebene Hand eine rechte ist, so ist deren Gegenstück eine linke“[1].

An Hand dieses Beispieles erläutert Kant seine inkongruente Vorstellung des Raumes und wendet sich den philosophischen Problemen dieser Annahme zu. Die Gegenstücke, so Kant, gleichen sich in vielerlei Hinsicht, aber es bleibt ein zentraler, innerer Unterschied bestehen. Die Oberfläche, die den einen Körper beschließt, kann unmöglich auch den anderen Körper be- und umschließen. Daraus folgert schließlich Kant, dass die Verschiedenheit auf einen inneren Grund beruhen muss. „Weil diese Oberfläche den körperlichen Raum des einen begrenzt, die dem anderen nicht zur Grenze dienen kann, mag man ihn drehen und wenden, wie man will, so muß [sic] diese Verschiedenheit eine solche sein, die auf einem inneren Grund beruhet“[2]. Hierbei meint Kant aber ausdrücklich nicht die unterschiede Art der Verbindung der Teile der Körper untereinander. Vor allem und gerade deshalb nicht, als die Handlung der schaffenden Ursache des einen notwendigerweise eine anderer nötig hat, als zur Schaffung des Gegenstückes dazu. Um auf dieses Problem einzugehen, stützt sich Kant auf die zeitgenössische Annahme vieler damaligen – vorrangig – dt. Philosophen, demnach der Raum nur in den äußeren Verhältnissen der nebeneinander befindlichen Teilen der Materie besteht.

Insofern ist der „wirkliche Raum“ im obig angeführten Beispiel nur der, den die Hand an sich einnimmt. Weil es aber dadurch zu keiner Unterscheidungsmöglichkeit in welchem Verhältnis der Teile derselben unter sich kommen kann, könnte die Hand ganz automatisch in Bezug auf den menschlichen Körper a priori sowohl die Eigenschaft als Linke, als auch als Rechte zugestanden werden. Und das ist natürlich nicht möglich.

Diesem Dilemma folgend wurde Kant klar, dass nicht die Bestimmung des Raumes folgen für die Lage eines Körpers hat, sondern vielmehr vize versa! Das Paradox wird von Kant dadurch umgangen, dass Unterschiede in der Beschaffenheit von Körpern getroffen werden müssen. Im Konkreten sind das „wahre Unterschiede“, die sich auf den absoluten und ursprünglichen Raum beziehen, „weil nur durch ihn das Verhältnis körperlicher Dinge möglich ist, und daß [sic], weil der absolute Raum kein Gegenstand einer äußeren Empfindung, sondern ein Grundbegriff ist, der alle dieselbe zuerst möglich macht, wir dasjenige, was in der Gestalt eines Körpers lediglich die Beziehung auf den einen Raum angehet, nur durch die Gegenhaltung mit anderen Körpern wahrnehmen können“[3]. Kant betont deshalb, dass man den Begriff des Raumes nicht als bloßes Gedankending ansehen darf. Das gilt gerade dann wenn – wie Kant es versucht – man versucht den Begriff in eine Vernunftidee zu fassen. Umso schwieriger ist das jedoch, wenn eine theoretische Annahme in Widerspruch zu der Erfahrbarkeit des Raumes steht.

 

Zentral ist für Kant in Bezug auf den Raum, dass eine äußere Erfahrbarkeit voraussetzt, dass etwas außerhalb jenes Ortes ist, das vom eigenen Ich als Örtlichkeit eingenommen wird. In dem Sinne setzt die Möglichkeit äußerer Wahrnehmung den Begriff des Raumes voraus und schafft ihn nicht erst. Gleiches gilt für die Affizierung dessen was in einem Raum enthalten ist. Aber daraus folgt, dass alles was Raum sein kann bzw. Raum einnimmt, zwangsläufig als Teil einer alles in sich begriffenen Vorstellung verstanden werden muss. Mehrer Teile (eines Ganzen oder eines Körpers) können als Vorstellung nur in Differenz zu einem umfassenden Raum begriffen werden; andernfalls ist es nicht denkbar!

Insofern ist der Begriff des Raumes eine reine Anschauung, weil er ein einzelner Begriff ist, der nicht durch Empfindungen zustande kommt, sondern die Grundform jeglicher äußerer Empfindung darstellt. Kant verdeutlicht diese Erkenntnis anhand von Beispielen aus der Geometrie, demnach jede durch Erkenntniskraft gemachte Darstellung von Postulaten, Aufgaben usw. nur eine reine Anschauung sein kann. „Denn daß [sic] es im Raum nicht mehr als drei Abmessungen gibt; daß [sic] zwischen zwei Punkten nur eine einzige Gerade ist; daß [sic] aus einem gegebenen Punkt auf einer Ebene mit einer gegebenen Gerade ein Kreis zu beschreiben sei usw.: das kann nicht aus irgendeinem allgemeinen Begriff des Raumes geschlossen, sondern nur in ihm gleichsam in concreto geschaut werden. Was in einem gegebenen Raum der einen Seite zugewandt liegt, was sich nach der entgegengesetzten hin erstreckt, kann durch keinen Scharfsinn diskursiv beschrieben oder auf Verstandesmerkmale zurückgeführt werden“[4]. Kant folgert nun: „Aus alledem ist ersichtlich, daß [sic] hier nur durch eine Art von reiner Anschauung die Verschiedenheit, nämlich die Inkongruenz, bemerkt werden kann“[5].

Hieraus wird dann für den Leser auch ersichtlich, was Kant damit zum Ausdruck bringen will. Nämlich dass – in Analogie zur Geometrie – die allgemeinen (auch geometrischen) Grundsätze nicht durch einen allgemeinen Begriff gedacht und postuliert werden können, sondern vielmehr durch die Anschauung (die dem betrachtenden Begriff inhärent ist) vor Augen gestellt werden. Und das kann nur im Sinnlichen geschehen!

Für Kant ist der Raum zu keiner Zeit etwas Objektives und Reales, sondern stets etwas Subjektives. Ein Ideal, das aus der Natur der Erkenntniskraft nach festen Gesetzen – einem Schema gleich – hervorgeht und dem jede äußerliche Empfindung schlechthin beizuordnen ist. Dem entgegen dachten viele Zeitgenossen Kant´s den Raum auf zwei Arten: Erstens als Realität, demnach der Raum als unbedingtes und unveräußerliches Behältnis aller möglichen Dinge gedacht werden muss oder aber zweitens der Raum wird – wie von Leibniz vertreten – als Verhältnis der Dinge selbst angesehen.

Kant jedoch wendet gegen diese beiden Sichtweisen ein, dass der Analogieschluss – von geometrischen Gesetzen ausgehend – von induktiven Annahmen auf eine allgemeingültige Aussage bzgl. des Raumes zu schließen Grundwegs falsch ist und fundamental der Vernunft im Allgemeinen und empirischen Gesetzmäßigkeiten im Speziellen widerspricht.

Dementsprechend mag der Begriff Raum – so Kant weiter – aus einer Einbildung entstammen, die dem realen und objektiven Seienden zuzuordnen ist und solche Eigenschaften aufweisen kann, jedoch bleibt der Raum „in Bezug auf alles beliebige Sensible“[6] und des weiteren nicht „ganz wahr“ und deshalb immer die Grundlage aller Wahrheit in der äußeren Sinnlichkeit. Wobei natürlich die Wahrnehmung einer äußeren Sinnlichkeit niemals in der Deduktion einer allgemeingültigen Objektivität münden kann.

Kant argumentiert folgendermaßen und bezieht sich darin auch gleich auf den inhärenten Fehlglauben an ein Behältnismodell“ der Begrifflichkeit Raum: „Der Raum ist demnach ein unbedingt erster formaler Grund der Sinnenwelt, nicht allein deswegen, weil durch seinen Begriff die Gegenstände des Alls Phaenomena sein können, sondern vorzüglich aus dem Grunde, weil er seinem Wesen nach nur einziger ist, der schlechthin alles äußerlich Sensible umfaßt [sic], und folglich einen Grund der Gesamtheit ausmacht, d. i. eines Ganzen, das nicht Teil eines anderen sein kann“[7].

Diese Sichtweise äußert sich auch im Problem der Orientierung. Orientierung ist geographisch nur möglich, wenn man auf das zurückgreift was zum einen objektiv in der umgebenden Weltgegend beobachtbar ist und zum anderen welche subjektive Gefühle bzw. Untersuchungsgründe man in einer Orientierungsphase hat. In dem Sinne sind subjektive „Voraussetzungen“ unerlässlich, weil sonst „selbst der Astronom, wenn er bloß auf das was er sieht und nicht zugleich was er fühlt Acht gäbe, würde [er] sich unvermeidlich desorientieren“[8].

Interessant ist an dieser Stelle, dass Kant die Orientierung mithilfe von Objektivität und subjektiver Empfindung nicht nur auf den mathematischen (geometrischen) Raum beschränkt, sondern dieses Axiom auch auf das „Denken“ an sich erweitert und ausdehnt. Insofern heißt sich im Denken zu orientieren, logisch zu denken. „Man kann nach der Analogie leicht erraten, daß [sic] dieses ein Geschäft der reinen Vernunft sein werde, ihren Gebrauch zu lenken, wenn sie von bekannten Gegenständen (der Erfahrung) ausgehend sich über alle Grenzen der Erfahrung erweitern will, und ganz und gar kein Objekt der Anschauung, sondern bloß Raum für dieselbe findet. […] Sich im Denken überhaupt orientieren heißt also: sich, bei der Unzulänglichkeit der objektiven Prinzipien der Vernunft, im Fürwahrhalten nach einem subjektiven Prinzip derselben bestimmen“[9].

 

Die besondere Leistung von Kant besteht nun darin, dass er die Begrifflichkeit Raum von einer rein „göttlich“-naturwissenschaftlichen Diskussion entkoppelte und in eine „menschlich“-philosophische und demnach alltäglich-erfahrbare Vernunftsbedeutung einbettete. „Allein hiedurch [sic], nämlich durch den bloßen Begriff, ist doch noch nichts in Ansehung der Existenz dieses Gegenstandes und der wirklichen Verknüpfung desselben mit der Welt (dem Inbegriffe aller Gegenstände möglicher Erfahrung) ausgerichtet. Nun aber tritt das Recht des Bedürfnisses der Vernunft ein, als seines subjektiven Grundes, etwas vorauszusetzen und anzunehmen, was sie durch objektive Gründe zu wissen sich nicht anmaßen darf; und folglich sich im Denken, im unermesslichen und für uns mit dicker Nacht erfülleten Raume des Übersinnlichen, lediglich durch ihr eigenes Bedürfnis zu orientieren[10].


[1] Kant, Immanuel (1768): Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raum. In: Dünne, Jörg / Günzel, Stephan (Hg.) (2006): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Suhrkamp: Frankfurt/Main, S. 74.

[2] Kant a.a.O. S. 74f.

[3] Kant a.a.O. S. 75.

[4] Kant, Immanuel (1770): Von dem Raum. In: Dünne, Jörg / Günzel, Stephan (Hg.) (2006): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Suhrkamp: Frankfurt/Main, S. 76f

[5] Kant a.a.O. S. 77

[6] Kant a.a.O. S. 79

[7] Kant a.a.O. S. 79

[8] Kant, Immanuel (1786): Was heißt: sich im Denken orientieren? In: Dünne, Jörg / Günzel, Stephan (Hg.) (2006): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Suhrkamp: Frankfurt/Main, S. 80.

[9] Kant a.a.O. S. 81.

[10] Kant a.a.O. S. 82

1 Gedanke zu „Kant, Immanuel; Drei Texte über den Raum“

  1. Zu deinem Kanttext: Kant ist kompliziert und wer Kants Grundaussagen nicht kennt, wird den Text eh nicht verstehen. Sonst ist er gut lesbar, zeigt in Kürze auf wie Kant mit dem Raum umgeht und zeigt verständlich seine dazu notwendigen Voraussetzungen, dass diese sehr wohl diskutabel sind brauche ich ja nicht erwähnen. Bei Kant ist halt Zeit und Raum ein zusammenfassender Akt des Verstandes. Das Denken prägt die Form der Materie (das ist das, was du als sinnliches bezeichnest. Sinnliches ist gebunden an Zeit und Raum – deshalb braucht er die Transzendentale Ästhetik quasi als vorgegebene Wahrnehmung)) und so ist ein Ansichsein des Sein nicht erkennbar. Du schreibst richtig, dass Kant damit eine wesentliche Neuorientierung eingebracht hat: Zeit und Raum sind Universalien – Elemente – die dem Denken als Formen dienen. Die Wirklichkeit ist Denken und Sinnliches, die an Zeit und Raum gebundenen Empfindungen. Nur als Anmerkung: Bei späteren Philosophen werden nicht mehr die Formen von Raum und Zeit wichtig sein, sondern a. deren Beziehungen und b. deren darin eingeschlossenen Leere, darin erst überhaupt etwas entstehen bzw. in die Wirklichkeit treten kann. Sei noch erwähnt die Natur versteht Kant organisiert und sie hat grundlegende bestimmende Formen wie Zeit und Raum. In der Transzendentalen Deduktion bringt er genau dies auf den Punkt: Denken und Bewusstsein bildet die unabänderlichen Gesetze der Natur ab – dazu benötigt der Mensch nun eine ziemlich komplizierte Apparatur – soweit Kant.

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