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Hamedinger, Alexander (1997); „Raum, Struktur und Handlung als Kategorien der Entwicklungstheorie. Eine Auseinandersetzung mit Giddens, Foucault und Lefebvre“

Die folgende Auseinandersetzung mit des Autor’s Auseinandersetzung erfolgt relativ „häppchenweise“. Und erneut liegt der Grund ganz einfach in dem anders gelagerten Forschungsinteresse, der anders begründeten Herangehensweise, vermutlich differenten gesellschaftstheoretischen Grundüberlegungen und der Entstammung aus einer anderen wissenschaftlichen Disziplin. Alexander Hamedinger bietet in seinem angenehm zu lesenden Werk eine Art Begriffsarbeit im Rahmen der (ökonomischen) Entwicklungstheorie an. Er will einen Beitrag dazu leisten, ihren Zugang zu öffnen und sich der ständig transformierenden materiellen Ausformungen von Raum, Struktur und Handlung adäquat zu nähern.

Auch wenn der Konzentration auf strukturalistische Einflüsse auf die Beschäftigung mit den – auch für uns relevanten – Begrifflichkeiten rund um Raum, Raum-Zeit-Diskurse, Handlung, Struktur, Akteur, etc. im Laufe der folgenden Zeilen Tribut gezollt werden wird müssen, so wird der entwicklungstheoretischen Einführung hier keine gesonderte Aufmerksamkeit geschenkt. Der vorliegende Überblick beginnt erst bei Hamedinger’s Erläuterung der strukturalistischen Positionen, die seiner Zurechtlegung eines entwicklungstheoretischen Zuganges zugrunde liegen.

 

So geht er zum Beispiel auf de Sausurre (Strukturalistische Linguistik) ein, der Sprache in seinem analytischen Zugang auf ein System von Zeichen, das „virtuell im Ganzen aller individuellen Gehirne existiert“[1], reduziert, was für eine Sozialwissenschaft, die sich auf das Verstehen von Menschen und Gesellschaften konzentriert, nicht adäquat erscheint.

Weiters beschäftigt er sich mit Claude Levi-Strauss, der wohl der erste war, der „versuchte, den linguistischen Strukturalismus in die Sozialwissenschaften einzuführen“[2]. Er konzentrierte sich auf das Erforschen eines überindividuellen, universalistischen Systems als organischem Ganzen.[3] Levi-Strauss nimmt also ein Regelsystem an, das aus dem Individuum nicht bewussten Strukturen besteht; er argumentiert so auf Grundlage von Parallelen zwischen anthropologischen und sprachlichen Erscheinungen (Kulturen-überschreitend). Allerdings gilt es hier zu beachten, dass das nichts mit individuellem Unbewusstem aus der Psychoanalyse zu tun hat; viel mehr geht es um eine Art überindividuellen Rationalismus mit kollektiven Zügen. Somit ist soziales Leben determiniert von einer Struktur (Transformationsgeflecht), die das Unbewusste dominiert. „Die Zwänge des Geistes sind konstant und von der Umwelt unabhängig. Sie sind Regeln oder Gesetze, die die Mitglieder einer spezifischen Gesellschaft lenken.“[4] Die Zwänge der Erfahrung sind extern; technische oder ökonomische Bedingungen von der Umwelt. „Die Kultur wird von diesen zwei vorgestellten Determinismen geformt.“[5]

An dieser Stelle kommt erstmals Anthony Giddens ins Spiel (der Autor des hier im Zentrum stehenden Werkes wird diesen in den zukünftigen Zeilen den jeweils miteinbezogenen Theoretikern gegenüberstellen): Er kritisiert an Levi-Strauss dessen fehlende Unterscheidung zwischen Struktur und System einerseits, und seine Aussparung des handelnden Subjekts (individuelle Erfahrungen und Ideen) andererseits. Außerdem fehlt ihm die Einbeziehung der Hermeneutik bei der Interpretation von Mythen, Texten, etc..

 

Derrida, den Hamedinger ebenfalls als unumgänglich in die Verschriftlichung seiner Überlegungen einbringt, vermeidet „dieses einseitige methodische Insistieren auf die die Rolle des Subjekts determinierende Struktur“[6], kann also wohl kaum als Strukturalist bezeichnet werden. Sinn wird bei Derrida über différance im Prozess der Signifikation erzeugt. Die Bedeutung von Schriftzeichen kommt aus dem Vergleich zu zeitlich früheren oder zukünftigen Bedeutungen; aber nicht nur zeitliche Distanz, auch räumliche Distanz (indem die Gegenwart sich von der Gegenwart unterscheidet) spielt eine Rolle. Schrift „entsteht aus gleichzeitigen Unterschieden an anderen Orten. [So wird Zeit verräumlicht.; Anm.] Der Raum ist demnach ein Verweisungszusammenhang, in dem ein ständiges ‚Sich-Unterscheiden’ stattfindet, indem auf andere Zeiten verwiesen wird. Dies ist das Zeit-Werden des Raumes.“[7]

Mündliche oder schriftliche Sprachprozesse erzeugen eine raumzeitliche Dimension. Momente der différance operieren als Schnittstelle zwischen Gegenwärtigem und Vergangenem, wobei différance nicht im Gegenwärtigen existiert, sondern sich ständig aktualisiert. Insofern funktioniert dieses Konzept ähnlich einer Struktur; weil es Ordnungen sozusagen „aus dem Verborgenen“ generiert.

Giddens kritisiert an Derrida das außen-vor-lassen der Verbindung zu Sprechakten von bewussten Akteuren in bestimmten Kontexten. Différance interpretiert Sprache als fixierte Strukturierung, ohne all jenes zu beachten, was nicht gesagt werden kann bzw. wird. Derrida will das Subjekt nicht vollständig aus der Zeichenwelt eliminiert wissen.

 

Bei Foucault geht es um Diskurse, die von nicht-diskursiven Praktiken technischer, ökonomischer, politischer, sozialer oder institutioneller Art abgegrenzt werden müssen, diese jedoch über ihre diskursive Praxis in eine Abhängigkeit zu eben diesen bringen. Die ereignishaften Diskurse werden von der Macht und deren Praktiken kontrolliert. Foucault lehnt es ab, sich auf Handeln als grundlegend relevant, und dem beobachtenden Subjekt absolute Priorität einräumend zu versteifen. Es geht ihm um das Hinterfragen subjektloser, unbewusster Wissensformationen. Insofern besteht auch hier ein ordnendes Unbewusstes der Geschichte. Da diskursive Ereignisse Beziehungen zu nicht-diskursiven Praktiken eingehen, sind sie auch mitverantwortlich für die Produktion von Macht.

Sowohl Foucault als auch Giddens untersuchen Elemente der Macht in verschiedenen Formen von Praktiken; bei Giddens drückt sich Macht „allerdings auch in konkreten Ressourcen- und Regelbenützungen aus, die erst etwa Herrschaftsstrukturen entstehen lassen, während Foucault von subjektlosen Netzwerken von Kräften ausgeht, die zusammen so etwas wie einen ‚Machteffekt’ ergeben.“[8]

Bei Foucault hat die räumliche Ausgestaltung der Etablierung von Institutionen einen wesentlicheren symbolischen Stellenwert als bei Giddens; wobei Letzterem ein ausgefeiltes Raumkonzept überhaupt fehlt (Giddens nimmt kaum Rücksicht auf „diese Komponente des ‚sozialen’ Raums, der sich aus ständiger Produktion und Reproduktion von Strukturen und individuellen Handlungsweisen ergibt“[9].). Foucault untersucht Sinnformen aus der Ebene der unbewussten Strukturen, während Giddens die Bedeutung eines offenkundigen Sinns im alltäglichen Handeln betont. Zumindest aber deuten beide die Vorstellung eines virtuellen Bereichs von Strukturen an.

Giddens kritisiert Foucault’s Maß an Konzentration auf den Diskurs, da er – Giddens’ Meinung nach – somit den Prozesscharakter institutioneller Veränderungen übergeht. Für Giddens ist Diskurs – in Beziehung zu Macht – vielmehr Phänomen institutioneller Reflexivität, das ständig in Bewegung ist, als einseitiges Eindringen des Macht-Wissens in die soziale Ordnung.[10] „Es [das Phänomen Diskurs; Anm.] ist institutionell, weil es ein grundlegend strukturiertes Element der sozialen Aktivität in modernen Konstellationen ist.“[11]

 

Was sind also die grundlegenden Komponenten und Argumente des Strukturalismus? Hamedinger bietet eine Art zwischenzeitlichen Überblick an:

         Dezentrierung des Subjekts; untergeordnete Rolle des Bewusstseins. Das Reale und das Imaginäre sind nur Wirkungen der strukturierenden Kraft. Selbstbewusstsein wird von der transzendenten Struktur bestimmt. Die Struktur ermöglicht den Individuen Handlungsspielraum, und somit die Praktiken.

         Sinn kann nur aus dem Spiel der Differenzen der Zeichen produziert werden. „Der Sinn von Handlungen ergibt sich aus ihren Positionierungen, aus ihrer Stellung im strukturellen Raum. […] Die Orte in diesem Raum sind wichtiger als die realen Dinge und imaginären Ereignisse, von denen die Orte ausgefüllt oder eingenommen werden.“[12] Alles ist Struktur, und alle Strukturalität ist ein unendliches Spiel von Differenzen.

         Strukturalistische Ansätze lehnen den Gedanken an eine Metaphysik ab. Die sinnliche Welt ist nicht einfach Repräsentation einer transzendenten Welt. Die Struktur ist ursprungslos und somit der Mensch nicht der Ursprung. Alle Elemente sind gleichzeitig und somit der Ursache-Wirkungs-Zusammenhang aufgehoben; nicht Ursache-Wirkung, sondern Zusammenspiel von Wirkungen.

         Struktur(ierung) sprachlicher Ausdrücke ist einziger Sinnlieferant; Bedeutung eines Wortes ergibt sich aus Regel seines Gebrauchs (nicht aus dahinter stehenden Gedanken des Sprechers!).

         Struktur ist ein Beziehungsgeflecht von Elementen, dominiert über die Unterscheidung/Differenz zu jeweils anderen Elementen; Struktur ist die treibende Kraft im Verborgenen.

         Es bedarf eines Nullpunktes, „ein leeres Feld, das die Ordnung der Strukturen gewährleistet und auf das sich die Elemente der Struktur beziehen“[13]; in der Ökonomie zum Beispiel der Wert.

 

 

Nach diesen sehr grundlegenden Überlegungen zu den zentralen Elementen eines strukturalistischen Gedankengebäudes wendet sich Hamedinger der konkreteren Begriffsarbeit zu. Im unmittelbar folgenden Teil steht die Komponente Handlung/Akteur der Giddens’schen Dualität (gegenüber der anderen Seite Struktur) im Zentrum der Ausführungen.

Ausgegangen wird wohlgemerkt von einem unbewusst handelnden Subjekt, das also dem homo oeconomicus (ökonomisch rationales Handeln) entgegensteht. Wie und warum tritt eine bestimmte Handlung an einem bestimmten Ort auf? Die Frage stellt sich nach dem Handeln in spezifischen Kulturräumen, also nach …

         bewussten Motiven,

         unbewussten Motiven und

         umschließenden Kollektiven.

 

Akteure handeln – nach Giddens – insofern bewusst, als das sie viel über die Bedingungen und Folgen ihrer alltäglichen Handlungen wissen. Akteure steuern nicht nur kontinuierlich den Fluss ihrer Aktivitäten (und erwarten selbiges auch von anderen), sondern „kontrollieren routinemäßig ebenso die sozialen und physischen Aspekte des Kontextes, in dem sie sich bewegen“[14]. Giddens geht davon aus, dass Akteure ein theoretisches Verständnis für die Hintergründe ihres Handelns entwickeln (Rationalisierung). Das ist ihnen zwar nicht bewusst, sie wenden es jedoch praktische an (Routine des Alltagslebens); vor allem auch in Bezug auf die Interpretation des Verhaltens des Gegenübers. „Handlungsrationalisierung bezieht sich vor allem auf diese Wissensbereiche, die in die alltäglichen Routinen eingebettet sind.“[15]

 

Eine zweite zentrale Komponente bildet die Handlungsmotivation; Bedürfnisse sind der Grund von Motivationen. Motive haben nur sehr selten direkte Auswirkung auf Routine-Handlungen des Alltags. Motiv ist etwas Unbewusstes und entzieht sich bewusster Artikulation, spielt insofern auch nur eine sekundäre Rolle für die Erklärung und das Verstehen von Handlungen.

Weiters streicht Giddens den Unterschied zwischen reiner Identifikation von Handeln und intentionalem Handeln hervor. Es geht ihm dabei um unbeabsichtigte Folgen für Handeln. Handeln bezieht sich dabei nicht auf die Intentionalität des Tuns, sondern auf das menschliche Vermögen, das überhaupt zu tun, was sie tun. Es geht um die reflexive Steuerung des kontinuierlichen Prozesses Handeln, der dem Handelnden im Alltag Kontrolle über seinen Körper verleiht. Also tut man Dinge, deren Folgen man nicht unbedingt beabsichtigt. Auch wenn Handlungen oft intentional sind, so sind sie in einer Gesamtheit mit anderen Handlungen meist irrational. Tun und Absicht werden über Gründe oft miteinander verbunden; „Gründe sind für Giddens ‚Handlungsprinzipien’, die eine adäquate, für das Individuum zufriedenstellende Zweck-Mittel-Effizienz gewährleisten.“[16] Die Rationalisierung bindet Verhalten an die kausale Verankerung des Handelns, welche aus Erfahrung(swissen) für den Akteur erwächst.

 

Giddens fundiert sein Konzept von Handeln außerdem auch psychologisch, wobei dieses Fundament an Freud’s Es-Ich-Über-Ich-Dreiteilung anknüpft, dieses um praktisches Bewusstsein[17] erweitert, und die anderen Ebenen modifiziert.

 

Welches Resümee kann also – auch hier nur vorläufig – bzgl. des Handlungsbegriffes und der Akteurskonstitution gezogen werden?

Bewusstsein wird bei Giddens mit praktischem Bewusstsein identifiziert. Das Ich ist das Zentrum des diskursiven Bewusstseins, wobei Ich, Es und Über-Ich natürlich keine separaten „Mini-Akteure“ sind. Das Ich fungiert als Vermittler zwischen Es und Außenwelt, zwischen Unbewusstem und Realität. So muss die symbolische Funktion des Unbewussten in der Sprache einer hermeneutischen Deutung unterzogen werden. Allerdings reduziert Giddens das Ich auf den praktisch-diskursiven Bewusstseinsteil, in dem er argumentiert, dass unbewusste Motivierung im routinegeprägten Alltagsleben nur selten durchbricht.

 

 

            Aufgrund dieser Bewusstseins-zentrierten Herangehensweise auf einer noch dazu äußerst symbolischen Ebene, verfolgt Giddens einen für unser Forschungsinteresse nicht relevanten Weg; dementsprechend steigt vorliegende Beschäftigung erst wieder bei Hamedinger’s Überlegungen bzgl. dem Raum-Begriff als zentrale Kategorie der Sozialwissenschaft ein.

 

Hamedinger beurteilt die „Frage nach der Rolle des Raumes als Bestimmung von Seiendem, als Bezugs- und Integrationspunkt von Handlungen oder als ‚struktureller Raum’“[18] als stark vernachlässigt. Für einen Subjektcharakter des Raumes spricht die Relevanz der Elemente Kontingenz und Kontext für die Konstitution des Raumes.

An dieser Stelle tritt Hamedinger – auf den Schultern Giddens stehend – dem dualistischen Charakter bisheriger Wissenschaftstheorien (auch) zum Raum entgegen; es geht ihm hierbei um die Möglichkeit, diese Dualismen (Form/Inhalt, Struktur/Handlung, Subjekt/Objekt)  aufzulösen oder zumindest aufzuklären.

 

Dass „wir unseren Raum machen und gleichzeitig von ihm umgeformt werden ist eine ontologische Festlegung“[19].

Giddens sieht die Kategorien Raum und Zeit gar als heart of social theory, als unumgängliche Komponenten und Grundlagen seines strukturalistischen Ansatzes. „Giddens bringt die Felder von Raum und Zeit als seiner Meinung nach zentrale Kategorien des Handelns der Subjekte, sowie der Konstitution von sozialen Systemen in seine diskursive Formation ein, indem er eine bestimmte Theorie in die Raum-Zeit-Argumentation als Fundierung der These von der Strukturierung implementiert.“[20] Dabei verwendet er eine eher materialistische Interpretation von Raum (zumindest in seinen späteren Überlegungen). „Primordial für das Handeln ist für ihn die Situiertheit in Raum und Zeit.“[21] Die drei Komponenten Raum, Zeit und Strukturiertheit konstituieren soziale Praxis.

Ein wichtiger Einfluss für Giddens war Hägerstrand’s Zeitgeographie[22]. Dessen zentralen Überlegungen drehen sich um …

         den Routinecharakter von Alltagshandlungen und

         den Körper als Ausgangspunkt jeder Raum-Zeit-Begegnung.

Demnach werden Körper und physischer Kontext des Handelns zu Zwangselementen für die Bewegung in Raum und Zeit; weil der Körper unteilbar ist, nicht gleichzeitig an verschiedenen Handlungen partizipieren kann und weil Raum und Zeit in der Bewegung des Körpers immer simultan agierend gedacht werden müssen.

Der Raum präsentiert sich also als Behälter, in dem sich soziale Prozesse abspielen. Auf Grundlage dieser Annahmen erstellt Hägerstrand biographische Entwürfe von intentional Handelnden. Den Interaktionsrahmen der Subjekte bilden für Hägerstrand – und in direktem Anschlus an ihn auch für Giddens – Umweltphänomene wie Regionen, Materien, Gegenstände, sowie andere Menschen.

 

Bei Giddens sind Orte jene Räume, die den Rahmen für Interaktionen darstellen. Diese sind „in Raum-Zeit-Regionen unterteilt, die wiederum für die Interaktionskonstitution ausschlaggebend sind“[23]. Dieser Raumkontext erlangt erst über Interaktionen seine Manifestation. Sinn hingegen wird über die Attribute dieser Interaktionsrahmen erzeugt. „Es geht hier […] um Routineaktivitäten, in welchen Eigenschaften des Interaktionsrahmens – ausdifferenziert über Raum und Zeit – Sinn konstituieren können, und in welchen die Kontextualität des Raumes offenkundig wird.“[24]

Weiters sind Regionen die zonenmäßige Aufteilung von Routinehandlungen in Raum und Zeit. Die unterschiedliche Qualität, die Differenz verschiedener Regionen sieht Giddens in Bezug auf den jeweiligen Zeitcharakter; da sich beispielsweise die Peripherie gegenüber dem Zentrum nur aus ihrem Rückstand in Bezug auf ihre Entwicklung unterscheidet. (An dieser Stelle tauchen natürlich Fragen bezüglich Geopolitik, Ideologie und Macht auf.)

„Orte und Regionen [sind] in ihrer Raum-Zeit-Ordnung in Ordnungen von größeren sozialen Systemen eingebettet.“[25] Also ist/besitzt Raum bei Giddens keine physische Objektivität.

 

Da Raum durch Interaktion zwischen Individuen konstituiert wird, setzt Giddens Kopräsenz dieser sich aufeinander und aneinander orientierenden Akteure für Räumlichkeit voraus. „Giddens konzentriert sich in diesem diskursiven Feld auf die Schriften von Merleau-Ponty und von Goffman, die beide dem Körper mit seinen sensorischen Anlagen als Vermittler zwischen dem Ich und der materiellen Umwelt sowie den Anderen zentrale Beachtung schenken.“[26] Bewusstseinsinhalte entstehen durch den Körper und dessen Bewegungen. Räumlichkeit ist also bestimmt durch das situationsbezogene körperliche Verhältnis des Individuums zu seiner Umwelt.

 

Hamedinger’s Kritikpunkte an Giddens sind (unter anderen):

         dessen unausgereifter, unhinterfragter Raumbegriff (jegliche theoretische Konzeption oder Theorie vermissend),

         dessen klare Favorisierung der Komponente Zeit gegenüber der Komponente Raum,

         dessen Sympathie für Marx’ materialistische Vorstellungen, trotz ständig auftauchender Agitation „gegen jede Art von historischem Materialismus“[27].

 

Anschließend rät Hamedinger Giddens, sich an anderen Raum-Konzepten zu orientieren, wenn er schon eine Vorstellung von Raum in sein sozialwissenschaftliches Gesamtkonzept einbringen wolle. Diesbezüglich nennt er Henri Lefebvre, David Harvey oder Ed Soja – da sie alle Giddens’ handlungstheoretischem Ansatz, in Bezug auf dessen materialistische und praxis-orientierte Ausrichtung, gleichen. Dementsprechend fokussiert der Autor des hier angeführten Werkes im Folgenden auf andere Raum-Ansätze als jenen von Giddens.

 

Er beginnt bei den Geographen, denen es um Alternativen zu dem reduktionistischen Raum-Begriff ihrer eigenen Disziplin geht. Leute wie Ed Soja oder David Harvey versuchten sich im Sog der Postmoderne an einer „Art ‚Dekonstruktion’ von ‚objektiven Wahrheiten’ in der Geographie“[28]. Sie bewegen sich also weg von der mathematischen Bestimmbarkeit, von der puren kartographischen Einteilung und physischem Determinismus.

 

Das räumliche Fundament sozialwissenschaftlicher Theorie bietet – auch bei Hamedinger – die Meta-Philosophie; also Konzepte unter der „realen“ Oberfläche. Es geht an dieser Stelle um einen Brückenschlag zwischen objektivistischer und subjektivistischer Raumauffassung.  Raum wird ähnlich wie Sprache produziert, von seinen Bewohnern interpretiert und verändert (über soziale Praktiken), wirkt aber ebenso zurück. Diese ontologische Begründung des Raumes im Handeln, sowie in seiner Materialität unterscheidet Raum von „klassischen“ Strukturen, die außerhalb des Subjekts sind.

 

Produziert Raum Sprache? Oder vice versa? Raum ist nicht auf einen Diskurs reduzierbar, aber ganz sicher gibt es „gewisse epistemologische Strukturen, die soziologische, politische und ökonomische Diskurse“[29] lenken. Stellt Sprache seine Struktur dar, nach der Individuen ihr Leben ordnen (müssen), oder wird diese Sprache von den Individuen alltäglich, selbst und sozial produziert?

Hamedinger argumentiert, dass es hier gar keinen Dualismus zu überwinden gebe, da Sprache sowohl in ihrer Funktion als Struktur, als auch als soziale Praktik jeweils einzeln – also in ihrem jeweiligen spezifischen Kontext – getrennt voneinander analysiert werden kann/muss. „In einer ‚Theorie des Raumes’ muß es demnach um die Produktion, um die Praxis der Signifikation gehen, die nicht nur Diskurse darstellen.“[30] Demzufolge kommt Hamedinger zu dem Schluss, dass man Praktiken analysieren muss, will man der Produktion des Raumes auf die Spur kommen; weil Raum eben nicht mit Sprache gleichzusetzen ist. Das grundlegende Argument meint, dass Raum nicht einfach nur Texte oder Diskurse sind, sondern Textures, die erst eine Bedeutung haben durch den Menschen, der in ihnen lebt. Produzierte Räume erhalten ihren Sinn durch die Benutzung; weil sie Teil von erlebter Erfahrung von Individuen werden.

 

Raum, wie Zeit, gehört doch eigentlich schon a priori zum Sein – bzw. Dasein – des Menschen. Somit sind Räumlichkeit und Zeitlichkeit als Being automatisch „involviert in die Produktion oder das ‚Becoming’ von Gesellschaften“[31].

Hamedinger rekurriert diesbezüglich auch auf Heidegger’s Dasein oder Sartre’s etre-la, deren Konzepte die Individuen in allererster Linie als historical-social-spatial beings[32] annehmen; durch deren Agieren werden Geschichte, Geographie, Gesellschaft konstruiert bzw. produziert. Raum ist somit nicht nur primordial und unverzichtbar in der/für die Erkenntnis, sonder auch im/für das Dasein. Grundlegende These stellt die Annahme dar, dass Raum als soziales Produkt aufzufassen ist. „Aufgrund seiner Materialität ist er Raum des alltäglichen sozialen Lebens und ist ebenso ein Faktor in der Strukturierung dieses Lebens.“[33] Dementsprechend kann man Raum nie unabhängig von sozialen Verhältnissen betrachten.

 

„Es geht [beim in-Beziehung-Setzen von Raum, sozialer Praxis und Macht; Anm.] darum, den sozialen Raum zu beschreiben, der von einer bestimmten Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte ‚ausgefüllt’ oder okkupiert wird. […] Wenn davon ausgegangen werden kann, daß jede Gesellschaft ihren eigenen Raum kreiert […] und produziert (als Inhalt oder Materialität), dann hängt diese soziale Ausgestaltung vom jeweiligen Produktionsmodus und den Produktionsverhältnissen, sowie von den sozialen Reproduktionsverhältnissen […] ab.“[34]

Räume werden also kontinuierlich geprägt und erhalten gesellschaftliche Konnotationen zum Zwecke der Entwicklung und Etablierung von Machtverhältnissen. Also produzieren die Produktivkräfte Raum. Die Natur wird dadurch beherrscht (und bedroht). Angelehnt an Lefebvre muss allerdings davon ausgegangen werden, dass Raum nichts rein materielles ist, sondern ganz einfach auch die Objekte in ihm, die diese verbindenden Beziehungen, also ganz einfach die Möglichkeitsbedingungen für weitere soziale Aktivitäten (Produktion, Konsumtion) umfasst.

Aktive Produktion ist die Ergreifung dieser Möglichkeiten (weniger Folge der restriktiven Zwänge des Raumes!). „In der sozialen Produktion des Raumes werden physischer, materieller und mentaler Raum integriert, sodaß Raum substantielle und gleichzeitig kognitiv-interaktive Formen annimmt.“[35] Die Entwicklung des Raumes geht – Hamedinger zufolge – trotz alledem in Richtung second nature or space (menschlicher Raum, Arbeit, Wissen), weg von der Dominanz von first nature or space (natürlicher, physischer Raum). Die Produktion von Raum eignet sich also den primordialen first space an, der second space ist das Resultat der Umwandlung. Durch diesen transformativen Charakter des Raumes wird dieser geschichtlich/zeitlich; folglich erfahren Geschichtlichkeit und Räumlichkeit eine Verbindung. Raum und Zeit sind demnach also ontologische Bedingungen der realen Strukturierung von sozialem Leben; somit ist die Produktion von Raum „medium [… as well as] outcome of social action and relationship“[36]. Damit sind räumliche Strukturen und Beziehungen materialer Ausdruck sozialer Strukturen und Beziehungen.

 

Die Ordnung des Raumes erscheint „den Diskursen nachgelagert“[37]. So tut sie das bei Foucault beginnend, bis zu Giddens; allerdings fehlt in der theoretischen Beschäftigung damit nichts desto trotz meist eine explizite Raum-Theorie, die dieser Argumentation zugrunde liegen würde.

Hamedinger will sich – aus Komponenten verschiedener Ansätze – eine solche zurecht, und seinen Überlegungen zugrunde legen; er will „Giddens’ defiziente Raum-Konzeption ersetzen“[38], denn er stimmt grundsätzlich nicht überein mit …

         dem Vorrang der Zeitlichkeit gegenüber der Räumlichkeit[39] und

         dem „Hang zum Biologismus, zu einer reduktionistischen Vorstellung vom Akteur und von Macht“[40].

 

Seiner Ansicht nach muss die Produktion des Raumes durch soziale Praktiken im Zentrum einer für Sozialwissenschaft fruchtbaren Theorie stehen. Hamedinger benennt die Zutaten dafür mit Beiträgen von Henri Lefebvre, David Harvey und Ed Soja, sowie der Kapitalismuskritik eines post-postmodernen Marxismus. Lefebvre’s Ansatz ist fundamental für das Rezept; genauer gesagt geht es um dessen dreigeteilte – aber nicht aufgeteilte! – Vorstellung von perceived, conceived und lived Raum. „Soziale Praxis ist hierbei an die Materialität des Lebens gebunden und umfasst somit Produktion, sowie die Reproduktion des sozialen Lebens; die Körperlichkeit, das sensorische Wahrnehmen der Umwelt, stehen hier im Mittelpunkt der Vermittlung zwischen Ich und räumlicher Welt.“[41]/[42]

Lefebvre versucht sich also an einem Zusammenbringen empirischer Raumvorstellungen mit einer mentalen Raumbegrifflichkeit (marxistischer mit idealistischer Raumaspekte). Als fruchtbar und anschlussfähig für die Sozialwisenschaft erachtet Hamedinger …

         die Körperzentriertheit,

         die Fokussierung auf alltägliches Handeln/Routine,

         das dreidimensionale Raumkonzept,

         die Praxis-Orientierung.

 

Lefebvre akzeptiert ganz klar die marxistische Annahme des Vorrangs des materiellen Lebens in der Konstitution des Bewusstseins, „jedoch rückte er andererseits Fragen nach intelligiblen Superstrukturen und dem Unbewußtem nicht aus seiner Argumentationslinie. [… Dazwischen schiebt er eine] sozio-räumliche Dialektik, in welcher Raumorganisationen soziale Strukturen und Praktiken bedingen und vice versa“[43].

 

Daran anschließen will Hamedinger eine auf die Entwicklung von Räumen bezogene Kapitalismuskritik und –analyse. Aufgrund einer klareren Argumentationslinie sei an dieser Stelle David Harvey gegenüber Lefebvre (wobei Ersterer ohnehin auf Letzterem aufbaut; Anm.) der Vorzug zu geben. Harvey offeriert uns „eine Kombination von sozialen Prozessen und räumlichen Strukturen, von Klassenkampf und Humangeographie, wobei im Mittelpunkt wiederum das Verhältnis zwischen Sozial- und Raumstrukturen, die immer interdependent gedacht werden müssen, steht.“[44]

Er verknüpft also Kapitalismuskritik mit einer theoretischen Integration der Produktion des Raumes. Eine Anwendung dieses Ansatzes zielt also auf eine Analyse historisch-geographischer Transformationen als Ausdruck des in der Tatsache, dass Raum-Organisation notwendig ist „to overcome space“, immanenten Widerspruchs.

 

An dieser Stelle stellt er noch zwei weitere raumtheoretische Herangehensweisen vor; dieser Vorstellung stellt er eine Erklärung der meist strukturalistischen Ausrichtung von Raum-Theorien voran; er sieht den Grund für die Annahme der Existenz von räumlichen und sozialen Strukturen außerhalb des Subjekts in dessen marxistischen Wurzeln.

 

In dieser Tradition sieht sich bekanntlich auch Althusser. Die Strukturen, die bei ihm hinter der Welt liegen, können diese auch sinnhaft gestalten; dementsprechend steht Ideologie hinter den Veränderungen der Realitäten sozialer Welt. Den Wissenschaften fällt hingegen die Rolle zu, „die Strukturen der sozialen Welt [zu] verändern und reproduzieren, sowohl auf kognitiver Ebene als auch im praktischen Teilhaben an der Welt“[45]; mit dem Verwerfen eines ökonomischen Determinismus und Historizismus bewegt sich Althusser naturgemäß weg von Marx’ Überlegungen. Den materialistischen Konzeptionen etwa eines David Harvey steht – so meint Hamedinger – Althusser aufgrund seines Verzichts auf Subjekt und konkrete, geschichtliche Inhalte diametral entgegen.[46]

 

Diesen Überlegungen Althussers folgte Manuel Castells; er übernahm von Althusser die drei Ebenen Ökonomie, Politik und Ideologie. „Räumliche Strukturen sind in Castells Theorie Ausdruck und Manifestation von sozialen Strukturen“[47]. Die ideologische Ebene ist bei ihm symbolische Raumorganisation. Eine Gesellschaft bekommt – als Teil eines „historischen Ensembles – eine räumliche Struktur; dies widerspricht natürlich Lefebvre’s Annahme der Produktion von Raum durch Praktiken bewusster Akteure.

 

Am anderen Ende des raumtheoretischen Spektrums ordnet Hamedinger einen subjektivistisch orientierten Ansatz an; es steht also das Subjekt mit seinen Erkenntnismöglichkeiten im Zentrum. Dabei besteht die Schwierigkeit, Raum nicht – im Anschluss an Kant – auf eine rein mentale Kategorie zu reduzieren; der Autor spielt diesbezüglich auf das Konzept Geographie der Lebenswelt von Benno Werlen[48] – in starker Anlehnung an Giddens – an; in einem neuen geographischen Bewusstsein soll „der lokalisierte Körper die Welt gleichermaßen in das Subjekt“[49] bringen; dies – so Werlen – wäre die adäquate Reaktion auf die raumzeitlichen Veränderungen in der Postmoderne.

Anknüpfend an Alfred Schütz (sinnhafte Konstitution der sozialen Welt) und die Phänomenologie von Husserl „gewinnt der Körper wieder zentrale Bedeutung in der Vermittlung zwischen Ich und Außenwelt“[50]. Es soll die geographische Verräumlichung alltäglicher Lebenswelten betrachtet und als Grundlage der Humangeographie herangezogen werden; soziale Wirklichkeit zeigt sich dem Wissenschaftler also in den Handlungen von Subjekten. Damit hätte Raum keine konstitutive Kraft per se; Hamedinger traut dieser Herangehensweise keine analytische Relevanz oder Aussagekraft zu.

 

An Lefebvre hingegen schätzt er die weder strukturalistische, noch rein subjektivistische oder handlungstheoretische Vorstellung von Raum. In der Konzentration auf der den Widersprüchen des Raumes immanenten räumlich-sozialen Dialektik gründet Hamedinger’s Hoffnung, einen adäquaten Zugang gefunden zu haben.

Ihm geht es – wie anfänglich angedeutet – um die Beschäftigung mit bestimmten ideengeschichtlichen Momenten und Komponenten, sowie theoretischen Konzepten, und deren Wert für einen entwicklungstheoretischen Zugang. Die Relevanz der Aufarbeitung speziell des raumtheoretischen Feldes argumentiert er einleuchtend, wenn auch nicht – und das sei nicht als Beanstandung zu verstehen (Anm.) – überdurchschnittlich komplex; „Schließlich geht es auch im Kontext von ‚Entwicklung’ nicht nur um das geschichtliche Werden, also das ‚Becoming’ von Gesellschaften, sondern auch um die Vernetzung dieses Werdens mit dem Dasein als ‚Being’.“[51] Vorteil ist demnach die Offenheit für Differenz(en), also das Entgegentreten gegenüber einer universalistischen Theorie durch die Beachtung und Inkludierung der Komponenten von Raum und Zeit.

Unter dieser ganz klaren Prämisse versucht sich Hamedinger an einer „Integrierung der Methodik und Analytik von Marx, Foucault und Lefebvre“[52]; Ausgangspunkt ist Lefebvre’s Begrifflichkeit von Raum, um anschließend die Marx’sche und Foucault’sche Herangehensweise einfließen zu lassen. Die Vorgehensweise muss – entsprechend dem Verhältnis zwischen Struktur und Handlung – natürlich eine dialektische sein.

 

 

Wie schaut also Hamedinger’s Konzept einer Entwicklungstheorie des Raumes aus?

 

Der große (neo-)marxistische Einfluss manifestiert sich in der Implementierung des Produktionsbegriffes von Marx, „indem davon ausgegangen wird, daß Menschen ihr Leben und ihre Welt selbst produzieren.“[53] Der Produktionsprozess produziert nicht nur ökonomische Produkte, sondern ebenso Wissen, Kunst, Religionen, Ideologien und sogar die Natur; er produziert und reproduziert das Kapitalverhältnis selbst, „wobei die Raumkomponente die Platzierung der Produktion im übergeordneten ökonomischen System, die Aufteilung des Produktionsortes selbst, sowie die innerbetriebliche Raum-Ordnung […], und schließlich die Aufteilung des ‚Körper-Raumes’ […] meint.“[54]

Mithilfe dieser Begrifflichkeit kann die Bedeutung materieller Prozesse, die an Räume gebunden sind, in den Mittelpunkt gerückt werden.

 

Hamedinger zufolge müssen/können drei Raum-Felder einer Analyse unterzogen werden; diese werden strukturiert durch drei zentrale Dispositive oder Ordnungselemente, die aus einer – von der Entwicklung des Kapitalismus hervorgerufenen – uneinheitlichen Produktion von Räumen kulminiert. Diese Dispositive können umschrieben werden durch folgende drei relationalen Terme:

  1. global/lokal (homogen/fragmentiert)
  2. entgrenzt/begrenzt
  3. zentral/marginal

 

Diese drei Dispositive durchziehen die aufgefalteten Ebenen des Raumes. Diese sind – siehe Lefebvre:

  1. räumliche Praktiken
  2. Repräsentationen von Räumen

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