In der vorliegenden kurzen Abhandlung beginnt Flusser seine Ausführungen mit einer Beschreibung der Perzeptionsmöglichkeiten der räumlichen Erfahrungen bei Lebewesen, also bei „Organismen“. Er reduziert die schon aus anderen Epochen bekannten räumlichen Begrenzungen „oben“, „unten“, „vorne“ und „hinten“ auf vektorialer Achsenmöglichkeiten. Alle darüber hinausgehenden Raumerfahrungen sind Abstraktionen derselben.
Hierbei streicht Flusser die eigentümliche menschliche Fähigkeit der Abstraktion besonders hervor, wobei für Flusser Zahlen in der Beschreibung von räumlichen Abstraktionen eine ungleich größere Rolle spielen als Worte. Nicht zuletzt weil Raum in Zahlen besser ausgedrückt werden kann, vor allem „weil Worte zu sehr am Lebensraum kleben, während Zahlen abstrakter zu sein scheinen“[1]. Durch diese Perzeptionsherangehensweise wird es, so Flusser, immer deutlicher, „dass Raum mit Zeit unentwirrbar vorgestellt und begriffen zu sein hat“[2].
Und mit dieser Sichtweise grenzt sich Flusser von den Raumdenkern der vergangenen Zeiten klar ab: Die beiden Dimensionen (Zeit/Raum) sind somit nicht nur – wie bisher – miteinander verbunden, sondern untrennbar ineinander verworren. Diese neue Sichtweise hat weitreichende Konsequenzen: Das bisherige Weltbild „rechtfertigte man durch die Tatsache, dass etwas `jenseits von Raum und Zeit` unvorstellbar ist (so, als ob andererseits eine grenzenlose Zeit und ein grenzenloser Raum vorstellbar wären)“[3].
Als man jedoch begann, den Weltraum (dessen Entstehung sowie dessen Ausdehnung) zu berechnen, wurde diese Sichtweise immer unhaltbarer: „Es stellt sich nämlich bei den Weltraumberechnungen heraus, dass die Welt ein sich mit der Zeit ausdehnender Raum oder eine sich mit dem Raum zusammenziehende Zeit ist. Das lässt sich so in Worten fassen: Die Welt ist genauso groß wie alt, weil nämlich beide Messungen (Dimensionen) ein und dasselbe messen. Aber es lässt sich auch dramatischer sagen: Die Welt ist zeitlich und räumlich begrenzt (sie hat einen quantifizierbaren Durchmesser, ein quantifizierbares Gewicht und ein quantifizierbares Alter), weil der Tod in der Raumzeit in Form der Gleichung des zweiten Grundsatzes der Thermodynamik vorprogrammiert ist“[4]. Daraus lässt sich räumlich nämlich ableiten, dass der Weltraum nicht nur eine Abstraktion aus dem Lebensraum ist, sondern der Lebensraum zugleich auch eine Konkretion aus dem Weltraum sein muss. „Anders gesagt: Seit wir den Weltraum berechnen, erfahren wir den Lebensraum anders“[5]. Darüber hinaus trifft dieses Axiom nicht nur auf die makrokosmische Ordnung zu, sondern genauso auch auf den Mikrokosmos. Flusser spricht in diesem Zusammenhang von den „Teilchen“, aus denen wir aufgebaut sind bzw. von der Frage nach dem Aussehen des Raumes, in den sich eben diese Teilchen befinden. Auch im Kontext des Mikrokosmos, so Flusser, eine mathematische Berechnung bzw. Beschreibung dessen, was dargestellt werden soll ungemein zielführender als der Gebrauch von Wörtern. „Es kommen nämlich bei Übersetzungsversuchen solche Monstren heraus wie `stehende Wahrscheinlichkeitswelle` oder `quantische Sprünge`. Bedenken wir einmal, was das zweite Monstrum da aussagt. Dass es Teilchen gibt, die Abstände überspringen, ohne dabei Zeit zu brauchen, dass sie also an zwei verschiedenen Orten gleichzeitig sind. Das können wir uns nicht nur nicht vorstellen, sondern auch nicht wörtlich und buchstäblich begreifen“[6].
Warum ist es aber nun möglich, solche Sachverhalte in Gleichungen ausdrücken zu können. Die Antwort ist „simpel“: Gleichungen sind raum- und zeitlos, „denn es hat keinen Sinn, fragen zu wollen, ob `1+1=2’ auch um vier Uhr nachmittags in Semipalatinsk wahr ist“[7]. Und genau an dieser Stelle treffen wir auf den – schon in anderen Artikeln auf dieser Seite behandelten – „virtuellen Raum“. Virtuell „ist jener Raum, worin sich Teilchen befinden würden, wenn sie sich befinden könnten und wenn sie wirklich wären. Damit im Wort `virtueller Raum` so leichtsinnig umgegangen wird, ist es gut, sich seinen Ursprung ins Gedächtnis zu rufen: das Wort meint jenen Noch-nicht-Raum, in welchem Noch-nicht-Wirklichkeiten ihre Noch-nicht-Zeit verbringen“[8]. Der Zusammenhang zwischen realem und virtuellen Raum ist für Flusser, dass im virtuellen Raum kein wahr oder falsch, sondern immer nur mehr oder weniger große Wahrscheinlichkeiten vorherrschen, während es im realen Raum um tatsächlich Kalkulierbares geht. Und genau diese Unterscheidung wirkt nun auf unseren „realen“ Lebensraum ein – ob wir wollen oder nicht. „Wir können nicht anders, als fortan die Wahrheit als einen unerreichbaren Grenzwert der Wahrscheinlichkeit ansehen. Wodurch auch unser konkreter Lebensraum etwas Virtuelles in sich saugt: wir sind nicht mehr so überzeugt, dass der Lebensraum tatsächlich konkret ist“[9]. Tatsächlich taucht beim Verständnis der drei Dimensionen – Weltraum, Lebensraum, virtueller Raum – ein weiteres Problem auf. Beim Versuch alle drei Aspekte in ein verständliches Modell zu deuten, bilden die drei Räume keine progressive Leiter (oben der Weltraum, unten der virtuelle Raum und dazwischen der Lebensraum) oder eine Zwiebel, bei der die verschiedenen Räume in der jeweils nächsten Schicht enthalten sind, sondern vielmehr eine Schleife. Der Weltraum wird vom virtuellen enthalten und der virtuelle vom Weltraum, und der Lebensraum ist ein Sonderfall sowohl des Weltraums wie des virtuellen Raums. Also sind nicht nur die beiden Nichtlebensräume unvorstellbar, sondern ebenso unvorstellbar ist, wie diese drei Räume ineinander greifen. Vielleicht hat dies mit dem Paradox zu tun, dass das Gehirn die Welt enthält, von der es enthalten wird, weil im Gehirn Prozesse des virtuellen Raums (quantische Sprünge über Synapsen) vor sich gehen. Jedenfalls muss sich jeder, der gegenwärtig den Raum zu bedenken versucht, zuerst einmal dieser mehr als verzwickten Lage bewusst sein“[10]. Für Flusser ergibt sich aus dieser Raumbetrachtung, dass jeder, der sich mit Raumdenken auseinandersetzt, immer eine ganze Schar an Spezialisten mitziehen muss (Biologen, Astronomen, Kernphysiker usw.). Flusser schlägt nun in seinem Text eine Alternative zu dieser „transspezialisierten“ Raumgestaltung vor: Er geht davon aus, dass es durch die wissenschaftlichen Entdeckungen der vergangenen Dekaden unumgänglich ist, sich vom bisherigen geometrisch-chronologischen Raumdenken abzulösen und stattdessen in raumzeitliche Kategorien zu denken. Und das kann nur gelingen, wenn die Perzeption des „Organismus“, des am Boden befindlichen menschlichen Lebensraums mit vektorieller Ausdehnung (tausende Kilometer vorne, hinten sowie links und rechts, jedoch nur einige wenige Meter nach oben) bodenlos wird. „Gegenwärtig beginnt sich unter dem Einfluss der im Weltraum und im virtuellen Raum gewonnenen Erkenntnisse der Deckel des Lebensraums aufzulösen, und wir beginnen, mitten im Lebensraum obdachlos zu werden. Der sich empörende Wurm beginnt sich vom Boden abzukleben, bodenlos zu werden“[11].
Um seinen Ansatz zu verdeutlichen arbeitet Flusser die bisherige Raumgestaltung des Menschen beginnend vor 60.000 Jahren bis zur Gegenwart auf. In diesem Zusammenhang wird auf die Darstellung dieser Textpassage verzichtet. Nur soviel – und das ist auch das Substrat Flussers Aufarbeitung: „Privat und öffentlich sind die beiden großen Lebensraumkategorien, und alle übrigen Räume sind dort einzuräumen“[12]. Und genau diese klare Trennung beginnt zu erodieren. „So nämlich: Der virtuelle Raum und der Weltraum beginnen, in den Lebensraum einzubrechen, ihn teilweise zu überdecken (overlap), um einander zu überdecken. Dadurch werden wir vom Boden (aus dem Hier und Jetzt) gerissen und gezwungen, vogelfrei zu werden. […] Da wir bisher den Raum vom Boden her, also geometrisch, erlebt und verstanden haben, war bisher das Merkmal, alles Räumlichen die Definition, die Grenze. Und jetzt, da wir den Raum von innen her, also topologisch, zu erleben und zu verstehen beginnen, wird das Merkmal alles Räumlichen das Überschneiden, das Überdecken, das Ineinandergreifen werden; und die Frage, die dann im Interessenszentrum stehen wird, wird diese vierdimensionalen grauen Zonen betreffen“[13].
[1] Flusser, Vilém (1991): Räume. In: Dünne, Jörg / Günzel, Stephan (Hg.) (2006): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Suhrkamp: Frankfurt/Main, S. 274.
[2] Ebenda, S. 275
[3] Ebenda, S. 275
[4] Ebenda, S. 276
[5] Ebenda, S. 276
[6] Ebenda, S. 276
[7] Ebenda, S. 277
[8] Ebenda, S. 277
[9] Ebenda, S. 277
[10] Ebenda, S. 277 f.
[11] Ebenda, S. 278
[12] Ebenda, S. 279
[13] Ebenda, S. 280; 283 f.