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Deleuze, Gilles/ Guattari, Félix (1980); „1440 – Das Glatte und das Gekerbte“

Schon in die Überschrift integrieren die zwei Autoren zwei zentrale Metaphern, auf deren (nicht nur) bildhafte Aussagekraft sie ihre im Folgenden dargelegten Überlegungen basieren; der glatte Raum ist jener der Nomaden, während der sesshafte Mensch durch seine Praktiken einen gekerbten Raum zur Betrachtung hinterlässt. Der glatte Raum ist Grundlage für die Entwicklung der Kriegsmaschinerie, während der Staatsapparat den gekerbten Raum schafft. Sie existieren allerdings beide nur aufgrund ständiger Vermischung; „der glatte Raum wird unaufhörlich in einen gekerbten Raum übertragen und überführt; der gekerbte Raum wird ständig umgekrempelt, in einen glatten Raum zurückverwandelt“[1]. Nichts desto trotz sind sie ganz klar theoretisch voneinander unterscheidbar.

Deleuze und Guattari gehen also diesen Differenzen, den Verwischungen, den Übergängen und Bewegungen dieser beiden Räume auf den Grund; zu diesem Zwecke betrachten sie verschiedene Modelle.

Das Modell der Musik:

Die beiden Autoren finden die erste modellhafte Darstellung und die erste begriffliche Erfassung dieser Beziehung(sebenen) beim Komponisten Pierre Boulez. „Im Prinzip sagt Boulez, daß man in einem glatten Zeit-Raum besetzt, ohne zu zählen, während man in einem gekerbten Zeit-Raum zählt, um zu besetzen“[2]. Es geht also um die Unterscheidung zwischen metrisch/nicht-metrisch, zwischen dimensionalen und gerichteten Räumen.

Der glatte Raum ist eher mit Begriffen wie Ordnung, Statik, Stabilität, Gleichmäßigkeit, Konstanz zu verbinden, während der gekerbte Raum variabel, unregelmäßig, nicht festgelegt erscheint. Aber wie funktioniert die Kommunikation zwischen den beiden, wie schaut die Beziehung aus, wie der Wechsel und wie die Überlagerungen?

„Das Gekerbte ist das, was das Festgelegte und Variable miteinander verflicht, was unterschiedliche Formen ordnet und einander folgen läßt und was horizontale Melodielinien und vertikale Harmonieebenen organisiert“[3]. Kontinuierliche Variation, die Verschmelzung von Harmonie und Melodie zum Ziele der Freisetzung rhythmischer Werte hingegen zeichnet das Glatte aus.

Das Modell des Meeres:

In beiden hier besprochenen Räumen gibt es Punkte, Linien und Oberflächen. Im gekerbten Raum werden Linien meist Punkten untergeordnet, Erstere sind nur die Verbindungen zwischen Letzteren, im glatten Raum ist das umgekehrte Prinzip dominierend (dementsprechend „reißt die Bahn den Stillstand fort“[4]). Im glatten Raum ist die Linie ein Vektor, eine Richtung; er wird geschaffen durch örtlich begrenzte Operationen und Richtungsänderungen, und ist somit nicht dimensional oder metrisch. Affekte, Ereignisse, geformte oder (haptisch) wahrgenommene Dinge dominieren und besetzen ihn. Die Materialien verweisen nur auf Kräfte oder dienen ihnen als Symbole, während im gekerbten Raum die Formen Materie organisieren. Organlose Körper, Entfernungen, symptomische und einschätzende Wahrnehmung stehen Organismus und Organisation, Maßeinheiten und Besitztümern des gekerbten Raums gegenüber.

Und inmitten dieser Gegensätzlichkeiten findet sich das Meer wieder. Gilt es ursprünglich als glatter Raum par excellence, „wird es am ehesten mit den Anforderungen einer immer strengeren Einkerbung konfrontiert“[5]. Anders als man jetzt vielleicht glauben mag, spielen Deleuze und Guattari allerdings nicht auf maritime bauliche Einschränkungen in Landnähe an, sondern auf die Navigation auf hoher See. Dafür verantwortlich zeichnen in erster Linie die Astronomie und die Geographie (stellare Berechnung der Position und Kartographie).

Den Wendepunkt – um den Titel des vorliegenden Textes nicht erklärungsfrei für sich sprechen zu lassen –, „der eine erste entscheidende Einkerbung bedeutete und die großen Entdeckungen ermöglichte“[6], sehen die Autoren im Jahre 1440; allerdings nur als Resultat und folglich punktuelle Repräsentation lange vorangehender Entwicklungen nomadischer Navigation. Anhand immer zahlreicherer Charakteristika wurde der Archetypus aller glatten Räume immer öfter mit Raster über- und durchzogen. „Es hat sich immer mehr etwas Dimensionales herausgebildet, das sich das Direktionale unterordnete oder es überlagerte“[7].

Ähnlich erging es dem Luftraum; die Umkehrung gekerbter in glatte Räume folgte allerdings „auf dem Fuße“; so zum Beispiel in Form von Unterseebooten, die jegliche Rasterung ignorierte, „allerdings, in der verrücktesten Umkehrung, um das eingekerbte Land besser kontrollieren zu können“[8]. Das Glatte ist – aufgrund seines Deterritorialisierungsvermögens – dem Gekerbten immer überlegen.

Anhand der Oberfläche der beiden Räume unterscheiden Deleuze und Guattari diese prinzipiell auf dreifache Art und Weise:

  • umgekehrte Beziehung von Punkt und Linie
  • unterschiedliche Art der Linie (gerichtet-glatt vs. dimensional-gekerbt)
  • geschlossene, festgelegte Oberfläche, eingeteilt anhand der Einkerbungen vs. offener Raum „entsprechend den Frequenzen und der Länge der Wegstrecken“[9].

Die Unterschiede sind also recht einfach festzumachen, aber umso schwieriger auszumachen. Man kann nicht einfach nur das Meer, die Wüste, die Steppe und den Himmel als Glattes sehen; auch die Erde selbst – „je nachdem, ob es eine Kultur im Nomos-Raum oder eine Agrikultur im Stadt-Raum gibt“[10] – ist in sich gegensätzlich. Genauso beeinflussen sich Stadt- und Landgebiet gegenseitig, es gehen glatte Räume von der Stadt aus, und das Meer wird immer mehr zum gekerbten Raum (wie schon zuvor erläutert).

Die Autoren selbst kommen also zu dem Schluss, dass der einfache Gegensatz glatt-gekerbt zu immer mehr Komplikationen führt, je tiefer man theoretisch gräbt. Gerade dadurch fühlen sie sich jedoch in ihrer Herangehensweise bestätigt, „weil sie [die Komplikationen; Anm.] dissymmetrische Bewegung ins Spiel bringen“[11].

Deleuze und Guattari sehen die Hauptbegründung dafür in der subjektiven Anschauung, in der Tatsache, dass die Unterschiede ganz einfach nicht objektiv sind (als Beispiele werden hier moderne Nomaden in der Stadt, oder jene, die eingekerbt in der Wüste leben, genannt; genauso gibt es aber auch das Reisen an Ort und Stelle). „Kurz gesagt, Reisen unterscheiden sich weder durch die objektive Qualität on Orten, noch durch die messbare Quantität der Bewegung, noch durch irgendetwas, das nur im Geiste stattfindet, sondern durch die Art der Verräumlichung, durch die Art im Raum zu sein, oder wie der Raum zu sein“[12].

Es geht – so der Schluss aus den eben erläuterten Überlegungen – also um die jeweilige Sichtweise des aktuell durch den gegenwärtigen Raum Reisenden. „Die Konfrontation von Glattem und Gekerbtem, die Übergänge, die Wechsel und die Überlagerungen finden heute und in den unterschiedlichsten Richtungen statt“[13].



[1] Deleuze, Gilles/ Guattari, Félix (1980); 1440 – Das Glatte und das Gekerbte, in: Dünne, Jörg/ Günzel, Stephan (Hrsg.); Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften; Suhrkamp Taschenbuch Verlag; Frankfurt am Main, 2006; S. 434.

[2] Ebenda, S. 435

[3] Ebenda, S. 436

[4] Ebenda, S. 437

[5] Ebenda, S. 438

[6] Ebenda, S. 438

[7] Ebenda, S. 439

[8] Ebenda, S. 439

[9] Ebenda, S. 440

[10] Ebenda, S. 441

[11] Ebenda, S. 442

[12] Ebenda, S. 443

[13] Ebenda, S. 443

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