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Bourdieu, Pierre (1989); „Sozialer Raum, symbolischer Raum“

Bourdieus Ansatz – und darauf baut seine wissenschaftliche Arbeit auf – ist zwar hinlänglich bekannt, aber trotzdem wird in einigen wenigen Sätzen darauf eingegangen. Die innerste Logik der sozialen Welt lässt sich nur fassen, wenn man in die „Besonderheit einer empirischen, in der Geschichte räumlich und zeitlich bestimmbaren Realität eindringt, aber nur um sie als ´besonderen Fall des Möglichen´ zu konstruieren, […] also als Einzelfall in einem endlichen Universum von möglichen Konfigurationen“[1].

In dieser Aussage lässt sich zum einen Bourdieus grundsätzliches Paradigma erkennen und zum anderen schwingen hier auch schon die Grundzüge seines Raumverständnisses mit. Für Bourdieu dient die Analyse des sozialen Raumes immer dem Zweck das Invariante, somit die Struktur der beobachteten Variante zu erfassen.

Die Struktur oder Prinzipien der Konstruktion des sozialen Raumes oder die Mechanismen der Reproduktion dieses Raumes lassen sich nur hervorbringen, wenn es gelingt räumliche Möglichkeiten (Varianten) als Modell mit dem Anspruch auf universelle Gültigkeit unterschiedlicher Kollektivgeschichten zu vergleichen. Wobei hiermit nicht nur unterschiedliche geschichtswissenschaftliche Zeitabschnitte gemeint sind, sondern vor allem auch kulturell unterschiedliche Räume.

Dadurch können die wirklichen Unterschiede „an denen sich Strukturen wie Dispositionen (Habitus) scheiden“[2] erkannt werden, die ihren Ursprung eben nicht in der „natürlich-gegebenen“ Einmaligkeit von Gesellschaften hat, sondern stattdessen in den Besonderheiten unterschiedlicher kollektiver Kultur- und Gesellschaftsgeschichte zu suchen ist.

Das heißt, dass die räumliche Position eines Subjekts innerhalb einer Gesellschaft kein natürlich angeborenes Einstellungs- oder Verhaltensmerkmal ist, sondern tatsächlich nur eine perzeptive Differenz darstellt. Ein relationales Merkmal, das nur existent ist, wenn Relationen zu anderen Merkmalen vorliegen und unbewusst oder womöglich auch bewusst mitgedacht werden.

Daraus ergibt sich das Problem, dass ein Vergleich zwischen relationalen Differenzen unterschiedlicher Kulturräume nur dann möglich ist, wenn ein Vergleich zwischen umfassenden Systemmodellen analysiert wird. Versucht man stattdessen einzelne Merkmale – wie z.B. Strukturelle Eigenheiten oder direkt-äquivalente isoliert gegebene Merkmale – unterschiedlicher Kultur- und Geschichtsräume miteinander zu vergleichen, läuft man Gefahr, dass „strukturell unterschiedliche Merkmale unzulässigerweise gleichgesetzt oder strukturell gleiche Merkmale fälschlich unterschieden werden“[3].

Im sozialen Raum ergeben sich die Positionen von Akteuren bzw. Subjekten oder Gruppen durch zwei Unterscheidungsprinzipien:

1. durch das ökonomische Kapital sowie

2. durch das kulturelle Kapital.

Akteure weisen umso mehr Gemeinsamkeiten auf, je näher sie sich zu einander an diesen beiden Dimensionen befinden bzw. vice versa je ferner sie in dieser Hinsicht in Relation stehen. Diese Sichtweise steht auch in einem direkten kausalen Zusammenhang mit einer politischen Rechts- bzw. Linksorientierung bzw. Positionierung der gesellschaftlichen Akteure.

„Allgemeiner: Vermittelt über den Raum der Dispositionen (oder Habitus) der Akteure, wird der Raum der sozialen Positionen in einen Raum der von ihnen bezogenen Positionen rückübersetzt; oder, mit anderen Worten, dem System der differentiellen Abstände, über das sich die unterschiedlichen Positionen in den beiden Hauptdimensionen des sozialen Raums definieren, entspricht ein System von differentiellen Abständen bei den Merkmalen der Akteure (oder konstruierten Klassen von Akteuren), das heißt bei ihren Praktiken und bei den Gütern, die sie besitzen“[4].

Wobei der Begriff Habitus – heruntergebrochen auf seine wesentliche Bedeutung bzw. Funktion – eben diese gerade beschriebene stilisierte (geschichtliche) Einheitlichkeit (Sozialisation) erklärt, die einzelne Akteure und „konstruierte“ Klassen von Akteuren miteinander in Verbindung bringt. Die Habitus „[…] sind unterschiedlich und unterschieden und sie machen Unterschiede: Sie wenden unterschiedliche Unterscheidungsprinzipien an, oder sie wenden die gewöhnliche Unterscheidungsprinzipien unterschiedlich an. Die Habitus sind Prinzipien zur Generierung von unterschiedlichen und der Unterscheidung dienenden Praktiken […]“[5].

Durch das – für Bourdieu – zentrale Element Sprache werden obige Praktiken oder auch Produkte, also Wahrnehmungskategorien, zu symbolhaften Unterscheidungen einer Gesellschaft. Sie bilden somit ein Mythensystem an Unterscheidungsmerkmalen. Jedoch wird ein Unterschied erst dann zu einem mystifizierten Zeichen der sozialen Distinguiertheit, „wenn man ein Wahrnehmungs- und Gliederungsprinzip auf ihn anwendet, das, da es das Ergebnis der Inkorporierung der Struktur der objektiven Unterschiede ist […], bei allen Akteuren vorhanden ist, […] und ihre Wahrnehmungen […] strukturiert“[6].

Aus dieser Raumperzeption ergibt sich für Bourdieu eine grundlegende Beobachtung in Bezug auf die Struktur einer Gesellschaft. Und das ist wohl auch seine fundamentalste Erkenntnis: Diese Klassifikation oder relationale Positionierung von Akteuren oder Klassen von Akteuren „birgt die Gefahr , dass man theoretische Klassen, fiktive Gruppierungen, die nur auf dem Papier bestehen, kraft einer im Kopf gefällten Wissenschaftlerentscheidung als reale Klassen wahrnimmt, als reale, in der Realität als solche bestehende Gruppen“[7].

Das heißt Klassen sind nicht – wie Marx in seiner umfassenden Abbildung des Realem durch seinen Historischen Materialismus dachte – a priori vorhanden, sondern müssen erst „erkannt“ bzw. „erdacht“ und dadurch hervorgebracht werden.

Für Bourdieu – und das ist seine zentrale Erkenntnis, die er durch sein Raumdenken gewinnen konnte – werden Klassen konstruiert und nur der Raum dafür ist als gegeben anzunehmen: „Was existiert, ist ein sozialer Raum, ein Raum von Unterschieden, in denen die Klassen gewissermaßen virtuell existieren, unterschwellig, nicht als gegebene, sondern als herzustellende. […] Der soziale Raum ist eben doch die erste und letzte Realität, denn noch die Vorstellungen, die die sozialen Akteure von ihm haben können, werden von ihm bestimmt“[8].



[1] Bourdieu, Pierre (1989): Sozialer Raum, symbolischer Raum. In: Dünne, Jörg / Günzel, Stephan (Hg.) (2006): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Suhrkamp: Frankfurt/Main, S. 354.

[2] Ebenda, S. 355

[3] Ebenda, S. 356

[4] Ebenda, S. 359

[5] Ebenda, S. 360

[6] Ebenda, S. 361 f.

[7] Ebenda, S. 362

[8] Ebenda, S. 365 f.

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