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Leroi-Gourhan, André (1965); „Die symbolische Domestikation des Raums“

Mit Leben erfüllte Formen gibt es nur durch eine Einbettung in ihre jeweilige mit einem menschlichen Symbolsystem angefüllte soziale Umgebung. „Die menschliche Tatsache par excellence ist […] die Domestikation von Zeit und Raum.“[1]

Die raum-zeitliche Wahrnehmung an sich existiert von Anfang an; dementsprechend macht sich Leroi-Gourhan im vorliegenden Text – aufbauend auf dieser grundsätzlichen Annahme – auf die Suche und Analyse von Spuren des Übergangs von einem passiv hingenommenen zu einem konstruierten – und demzufolge humanisierten – Raum (der seiner Ansicht nach die Menschen von Tieren unterscheidet.

Die Schwierigkeit des Festmachens der Schritte dieser Entwicklung sieht Leroi-Gourhan darin, dass der Bau von Schutzgelegenheiten (im Gegensatz zu Werkzeug und Sprache) den Menschen nicht von den meisten Tieren unterscheidet. Der Unterschied, die tief greifende Wandlung tritt erst mit der Entwicklung des menschlichen Hirnapparates, des abstrakten Symbolismus und der Diversifizierung ethnischer Einheiten ein. Das wichtigste Instrument des symbolischen Dispositivs, das es uns bzw. der Wissenschaft erst ermöglicht, diese Entwicklung in der Vergangenheit nach zu verfolgen, ist die Sprache; wir sind hier konfrontiert mit einer durch Symbole vermittelte Inbesitznahme – und somit Beherrschbarkeit – von Zeit und Raum.

Jegliche „Natürlichkeit“ (Rhythmik der Jahreszeiten, Tag und Nacht, zu Fuß bewältigende Distanzen, etc.) wird durch ein symbolisches Netz (Kalender, Uhr, Längenmaße, etc.) vereinnahmt. Im humanisierten Raum, in der humanisierten Zeit gelangt das Spiel der Natur auf die vom Menschen beherrschte Bühne. Dieser „künstliche“ Rhythmus ermöglicht eine Sozialisation der Menschen.

Die Organisation des domestizierten Raums ist nicht nur Frage der technischen Ausstattung, sondern auch „der symbolische Ausdruck eines allgemein menschlichen Verhaltens“[2]. An diese These anschließend, fragt Leroi-Gourhan nach jenem Punkt, „an dem in der Wohnstätte die ersten Spuren des sozialen Funktionalismus auftreten, und insbesondere nach der möglichen Koinzidenz zwischen der sozio-geographischen Organisation und der techno-ökonomischen Evolution“[3]. Wann übernimmt der Siedlungsraum also die Funktion als konkretes Symbol des sozialen Systems?

Den offensichtlichsten dominierenden sozialen Einschnitt in die Ausformung der Domestikation des Raums bildete – mehr noch als das Abstecken zwischen Familien und Clans – die Trennung zwischen Mann und Frau. An den nicht-urbanisierten Rändern der urbanisierten Welt lässt sich dieses Charakteristikum bis heute beobachten (grundsätzlichste Voraussetzung für Kontinuitäten solcherart war natürlich die Sesshaftwerdung).

Prinzipiell unterscheidet Leroi-Gourhan zwei Arten der Wahrnehmung, der ein Individuum umgebenden Welt. Entweder als Strecke, als Bahn, während der dynamischen Durchquerung des Raums, oder als konzentrisch aufeinander folgende Kreise, die „das Bild in zwei einander gegenüberliegende Oberflächen, den Himmel und die Erde, die am Horizont zusammenlaufen“[4] teilen. Während Leroi-Gourhan verschiedene Tierarten (überwiegend) entweder die eine oder die andere Art der Wahrnehmung zuschreibt, meint er dass Mensch beide „mit dem Gesichtssinn verknüpft“[5], allerdings je nach Dies- oder Jenseitigkeit der Sesshaftwerdung in verschiedenen proportionalen Relationen zueinander (er erkennt Anzeichen dafür in Malereien, Erzählungen, o.ä.).

Vereinfacht: der nomadische Jäger-Sammler erfasst die Welt rund um ihn über die Wege, auf denen er sie durchwandert; der sesshafte Bauer erfasst die Welt rund um seinen Hof als konzentrisch angeordnete Kreise.

Die durch Sesshaftwerdung induzierte neue Gewichtung der Wahrnehmung prägte natürlich die Form jeglichen Dispositivs des sozialen Lebens (Zentralisierung, Hierarchisierung, Städte als Zentren). Logisch darauf folgendes und zu lösendes Problem ist die räumliche Integration des Individuums. „Die Integration der Individuen in den städtischen Organismus wird durch Rhythmen gewährleistet, die die kollektive Konditionierung bestimmen“[6]. Die Stadt wird zum Orientierungspunkt, um diesen humanisierten Kern mit seiner natürlichen Umgebung in eine kontinuierliche Ordnung zu bringen. Der humanisierte und durch symbolische Zuordnung bestimmte Mikrokosmos als Zentralpunkt der in einen Makrokosmos integrierten Anordnung von Himmel und Erde, von Süd, Nord, Ost und West. Durch diese räumliche (und zeitliche) Integration versucht Mensch das Universum unter seine Kontrolle zu bringen. Man hat Macht über einen Gegenstand nur dann, wenn man ihn benennt; das Symbol regiert den Gegenstand.

„Ordnung wird hier als Geometrie und in den Maßen von Zeit und Raum realisiert“[7]. Der Mensch verschafft sich Sicherheit dadurch, dass er alles erklärt, begreift, festlegt. Natürlich kann man die Mechanismen des Makrokosmos nicht real beeinflussen; aber immerhin scheinbar, durch eine Anpassung des humanisierten Mikrokosmos und seiner Individuen.



[1] Leroi-Gourhan, André; Die symbolische Domestikation des Raums; in: Dünne, Jörg/ Günzel, Stephan; Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften; Suhrkamp Taschenbuch Verlag; Frankfurt am Main, 2006; S. 228.

[2] Ebenda, S. 232

[3] Ebenda, S. 233

[4] Ebenda, S. 234

[5] Ebenda, S. 235

[6] Ebenda, S. 239

[7] Ebenda, S. 240

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