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Uexküll, Johann Jakob von; „Gedanken über die Entstehung des Raumes“

Uexkülls Beschäftigung mit der Entstehung des Raumes beginnt – in diesem Text – bei Kant, und dessen Nachweis einer „überall wirksame[n] Urkraft, die er nach ihren Leistungen die produktive Einbildungskraft nannte“[1]. Uexküll nennt diese im Folgenden produktive Bildungskraft, und beschreibt sie als jene Kraft, die es dem Individuum ermöglicht, „zahlreiche und verschiedenartige Teile zu einem neuen einheitlichen Ganzen zusammenzufassen.“[2] Eindrücke (Sinnesempfindungen) machen Elemente aus; aus diesen sind/werden Gegenstände zusammengesetzt – die Bildungskraft formt also Sinnesempfindungen zu einer neuen Einheit. Diese Formung erfolgt nach inneren feststehenden Regeln, welche Teil der Seele sind, und vergleichbar zu Strukturteilen materieller Organismen funktionieren.

Die Bildungsregeln beziehen sich laut Uexküll rein auf räumliche Empfindungen. Er macht drei Richtungsempfindungen pro Gegenstand aus; dieser wird danach eingeordnet, ob er sich vor oder hinter, links oder rechts von, über oder unter dem Betrachter befindet. Die produktive Bildungskraft vereinigt diese Empfindungen nach klaren Regeln zu einer neuen Einheit (aber nicht schon zu einem Gegenstand [!], weil für die Bildung eines Gegenstandes die Umgrenzung fehlt). „Diese Einheit ist aber doch eine Anschauung mit objektiver Realität – wir nennen sie Raum.“[3]. Und dieser Raum ist Voraussetzung für die Bildung von Gegenständen. Raum ist die stetig präsente Ordnung der Lage von Gegenständen.

Und deswegen, so ist Uexküll überzeugt, erklärte Kant Raum als Strukturelement unserer Seele[4], als pures Ordnungsinstrumentarium.

An dieser Stelle geht Uexküll einen anderen Weg als Kant. Er beruft sich auf Cyon, wenn er meint, dass spätestens nach dessen wissenschaftlichen Erkenntnissen – betreffend „’halbzirkelförmigen Kanäle’ oder ‚Bogengänge’ des Ohres“[5] – es bewiesen sei, dass „Richtungsempfindungen, aus denen der Raum aufgebaut wird, echte Sinnesempfindungen sind“[6].

Die Anordnung der Gegenstände im Raum bleibt immer eine rein subjektive, dahingehend, dass deren Lage sich auf nichts als auf den Betrachter bezieht. Diese echten – biologisch fundierten – Sinnesempfindungen, plus die bewussten Bewegungen unseres Körpers in denselben drei Richtungen des Raumes, sind wiederum „über die Lage der Gegenstände im Raum orientiert“[7].

Somit kommt Uexküll in dem vorliegenden kurzen Gedankenpapier zu folgendem Schluss: der Raumsinnesapparat[8] des Menschen liefert uns „das gemeinsame Feld, in dem die Gegenstände leben und in dem sich unsere Bewegungen abspielen – den Raum“.[9]

Kritik:

 Der vorliegende Text des estnischen Naturwissenschafters Johann Jakob von Uexküll integriert eine neue Komponente in das Raumdenken des beginnenden 20. Jahrhunderts. Uexküll, der sich schon als Schüler mit Kant beschäftigte, hängt seine Überlegungen auf der Einsicht auf, dass Kant die menschliche Seele sozusagen als immateriellen Organismus nachgewiesen hat, der u.a. auch für die individuelle Erfahrung von Raum zuständig ist. Uexküll widerspricht diesem Glauben insofern, als dass er es für erwiesen hält, dass die Grundempfindungen der drei Richtungen im Raum nicht einfach nur in des Menschen Seele vorhanden sind, vor allem aber dass deren Entstehung nicht ohne äußere Einflüsse auskommen kann. Zur Unterstreichung seiner Argumentation zieht er den Raumsinnesapparat des menschlichen Körpers, der eine gefühlte Orientierung im Raum ermöglicht, heran.

Die Herangehensweise entstammt und entspricht natürlich zu einem beträchtlichen Maße Uexkülls Ausbildung als Zoologe; dennoch eröffnet sie eine interessante Perspektive, die in der laufenden Raum-Debatte des beginnenden 20. Jahrhunderts vor allem die Inkludierung und Beachtung anderer Wissenschaften als der Philosophie weiter voran trieb.

Den Raumbegriff als solchen betreffend, liefert er einen biologischen, naturwissenschaftlich fundierten Erklärungsversuch eines subjektiven, individuellen Raumes, der für andere Individuen nicht zugänglich oder gar gezielt beeinflussbar ist.



[1] Uexküll, Johann Jakob von; Gedanken über die Entstehung des Raumes, in: Dünne, Jörg/ Günzel, Stephan (Hrsg.); Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften; Suhrkamp Taschenbuch Verlag; Frankfurt am Main, 2006; S. 85.

[2] Ebenda S. 85

[3] Ebenda S. 86

[4] Unabhängig von äußeren Einflüssen!

[5] Uexküll, Johann Jakob von; in: Dünne, Jörg/ Günzel, Stephan; S. 87

[6] Ebenda S. 87

[7] Ebenda S. 91

[8] Biologische Erläuterung siehe S. 87 ff.

[9] Ebenda S. 91

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