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Dear, Michael/ Wolch, Jennifer (Hrsg.) (1989); „The Power of Geography. How Territory Shapes Social Life“

Im vorliegenden Sammelband, welcher sich selbst im Grenzland zwischen Soziologie und Humangeographie ansiedelt, geht es den Herausgebern und Autoren darum, Gesellschaftstheorie zu rekonstruieren, um die Vielfältigkeit gesellschaftlich-räumlicher Prozesse erfassen zu können; und das im Lichte der Erhellung, die das Richten des Fokus auf die Mechanismen der gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaft mit sich bringen soll: „society as a ‚time-space fabric’ upon which are engraved the processes of political, economic, and socio-cultural life.“[1]

 

Die menschliche Existenz drückt sich also durch spezifische Geschichte und Geographie aus, und kann daran – zu einem gewissen Maße – abgelesen werden. Der Einfluss von Territorium auf gesellschaftliches Handeln soll in vorliegendem Werk verstanden werden anhand der Betrachtung gesellschaftlicher Reproduktion, nicht anhand jener der Produktions-bezogenen Aspekte des gegenwärtigen Kapitalismus.

Territorium ist bei Dear/Wolch definiert als „geographically-organized human activity“[2]. Territorium schränkt die Möglichkeiten lokalen Experimentierens mit den Grenzen autonomen Handelns ein, genauso wie jene transzendentalen gesellschaftlichen Handelns. Die politische, soziale und ökonomische Sphäre steht also in einem gewissen Abhängigkeitsverhältnis zu einer Territoriums-bezogenen Natur.

 

Um dem Band eine halbwegs konsistente Gesellschaftstheorie zugrunde zu legen, greifen Dear/Wolch vorderhand auf Allen J. Scott und Michael Storper zurück, die die geographische Landschaft zu Zeiten des Kapitalimus als „an assemblage of territorial complexes of human labor and emergent social activity“[3] interpretieren. Dieses konstituiert sich …

  nach einem in den Verhältnissen der kapitalistischen Gesellschaft eingeschriebenen Regelsystem, …

            … als Manifestation eines komplexen Sets lokaler und regionaler Prozesse und …

            … durch eine Anhäufung menschlicher Gemeinschaften, die für gesellschaftliche

Reproduktion und gesellschaftliches Handeln verantwortlich zeichnen.

 

Darauf bauen Scott/Storper ihre humangeographischen Analysen – im Dreieck Production, Work und Territory – auf.

Doch rekurrieren Dear/Wolch nur auf Scott/Storper um ihre eigens angelegten Analysen von der Gegenseite her aufzuziehen, sozusagen das materialistische Pferd von hinten aus aufzuzäumen: „we focus on reproduction and territory“[4]. Was keineswegs bedeutet, dass sie von völlig anderen gesellschaftstheoretischen Grundannahmen ausgehen. Ihr Fokus liegt auf gesellschaftlichen Beziehungen und Handlungen, die sehr wohl den Mechanismen kapitalistischer Gesellschaft entspringen, und in weiterer Folge dazu da sind, diese zu forcieren und beizubehalten. Doch liegt Dear/Wolch die Distanzierung von jeglichem ökonomischen Determinismus sehr am Herzen; sie wehren sich gegen die Annahme, dass die Basis (ökonomische Verhältnisse) die primäre Determinante der Superstruktur (gesellschaftliche politische Beziehungen) ist.

Vielmehr wollen sie ihre Ausgangsposition als eine komplexe Interaktion des Räumlichen mit dem Ökonomischen und dem Politischen und Soziokulturellen verstanden wissen („socio-spatial dialectic“). Diese Mengenlage beeinflusst territoriale Konstellation(en).

Ihre daraus abgeleitete These:

Territory-based practices können gesellschaftliche Verhältnisse sowohl reproduzieren, als auch verändern.

 

Ihr Verständnis von Reproduktion bewegt sich entlang eines klassischen marxistischen Verständnisses, bzw. der weiterentwickelten Version bei Weber und Foucault. Nach Marx ist jeder gesellschaftliche Produktionsprozess zugleich Reproduktion; demnach werden nicht nur materielle Produkte produziert, sondern stetig auch damit assoziierte Produktions- und Verteilungsverhältnisse reproduziert. In der traditionellen Kritischen Theorie funktioniert die Reproduktion gesellschaftlicher Verhältnisse über die rechtlich-politische und ideologische Superstruktur. Die gesellschaftlichen Verhältnisse schlagen sich folgerichtig in geographischen Konstellationen und Formationen nieder (z.B. in nationalstaatlichen Strukturen, ethnisch homogenen Nachbarschaften, u.a.). Aber wie hängen die Form des Raums und die Art gesellschaftlicher Kräfte zusammen?[5]

 

Bei Dear/Wolch ist Raum ganz klar „a purposeful social product“[6]. Seine Organisation ist ein stetiger Prozess im Rahmen kapitalistischer Produktion und Reproduktion. Für sie unterstreicht beispielsweise die lokale oder regionale Konzentration ressourcenarmer oder ressourcenreicher Gruppen[7] ihre Argumentation.

 

Der Produktionsprozess erfolgt folgendermaßen: „knowledgeable actors/agents“ handeln innerhalb eines spezifischen gesellschaftlichen Kontextes (Struktur). Institutionalisierte Beziehungen/Verhältnisse – welche Handeln sowohl ermöglichen, als auch einschränken – vermitteln zwischen Struktur und Handlungsebene. Dementsprechend entfalten sich drei grundsätzliche – laut Dear/Wolch relevante – Untersuchungsebenen:

         Struktur (tief verankerte, routinemäßige gesellschaftliche Praxis; Beispiel Familie oder Gesetze)

         Institutionen (Phänomenologische Formen der Struktur; Beispiel Staatsapparat)

         Agents (Einfluss nehmende Individuen, die das präzise Postulat gesellschaftlicher Interaktion determinieren)

 

Diese dreiseitige Sequenz wirkt auf verschiedene(n) Ebenen, auf verschiedene Art und Weisen ein; also nimmt – um diese Konstellation anhand eines Beispiels anschaulich darzustellen – die Beziehung des globalen Kapitals zu den Arbeitsverhältnissen sowohl auf die urbane Struktur von Nationalstaaten, als auch auf die Struktur lokaler Nachbarschaften Einfluss.

 

Untersuchungsobjekte sind bei Dear/Wolch ausschließlich moderne kapitalistische Gesellschaften. Deren gesellschaftliches Leben spielt sich in drei – relativ(!) voneinander unabhängigen – Sphären ab:

         Ökonomie (dominiert von Industrialisierung und organisiert nach kapitalistischen Prinzipien)

         Politik (dominiert vom Staat und seinen demokratischen Institutionen)

         Soziale Sphäre (bestimmt durch Zivilgesellschaft, und somit den sozialen und kulturellen Verhältnissen, die außerhalb des Staates oder der Klassenverhältnisse stattfinden)

 

Spezifische Raum-Zeit-Konfigurationen sind Resultat der aufgrund von Herrschaft und Handeln entstehenden Dynamiken zwischen und in diesen Sphären.

 

Zu Raumpraktiken stellen Dear/Wolch folgende Überlegungen an: gesellschaftliche Praxis ist per se weil notwendigerweise räumlich. Diese Grundannahme zeichnet sich durch drei Aspekte aus:

  1. Gesellschaftliche Verhältnisse werden beeinflusst aufgrund der natürlichen Ressourcen, die die Möglichkeiten von Produktion mitbestimmen.
  2. Gesellschaftliche Verhältnisse werden eingeschränkt, menschliche Handlungen werden durch die Umwelt „behindert“ (man bedenke Naturkatastrophen, aber auch ganz einfach nur die Topographie).
  3. Gesellschaftliche Verhältnisse werden vermittelt durch Raum; räumliche Distanzen spielen eine Rolle bzgl. einer Vielzahl gesellschaftlicher Handlungen, sei es im Alltag, in der Entwicklung homogener Glaubensgemeinschaften in geographisch isolierten Gesellschaften, u.ä..

 

Ein geographisches Setting kann also verschiedene Funktionen erfüllen, bzw. Dimensionen haben:

         konstitutive Dimension

         eingrenzende/einschränkende Dimension

         vermittelnde Dimension

 

Die grundlegendsten Impeti und offensichtlichsten „Auswüchse“ territorialer Organisation gehen auf Produktionsbeziehungen, v.a. die Arbeitsteilung zurück. Auch diesbezüglich beziehen sich die Autoren wieder auf Scott/Storper: „the peculiarities of the labor process have historically given rise to distinctive ‚territorial production complexes’“.

Ebenfalls nicht zu vergessen ist ein Impetus für die soziale Konstruktion von Territorium, dem Autoritäts- bzw. Machtverhältnisse zugrunde liegen: es dreht sich hierbei um hierarchische Strukturen, wie den Staatsapparat, die „facilitate strong central control over spatially extensive and socially heterogeneous jurisdictions.“[8] Die hierarchische Organisation – auch bei Privatunternehmen – soll einfach eine effektivere Delegierung der Herrschaft über ein dementsprechend zweckmäßig aufgeteiltes Territorium ermöglichen/nach sich ziehen. Und sie wird in weiterer Folge in/durch Strukturen, Institutionen und menschliches Handeln reproduziert.

            Resultat dieser gesellschaftlich-räumlichen Dialektik ist die gesellschaftliche Konstruktion von Territorium.

 

Bevor die vorliegende Beschäftigung mit Dear/Wolch’s Sammelband den Gedanken der Herausgebern noch einen Stück des Weges weiter folgt, also ein kurzes Fazit der zugrunde liegenden Gesellschaftstheorie: Gesellschaft wird strukturiert durch politische, soziale und ökonomische Aktivitäten; diese werden artikuliert durch eine Reihe von Mechanismen (Arbeitsteilung, Herrschaftsverhältnisse, Verteilungsverhältnisse, etc.), und meist hierarchisch organisiert. „The practice of these social relations is necessarily constituted, constrained, and mediated through space.“[9]

 

Unbedingt anzumerken ist, dass Territorium oder Ort nicht(s) determiniert. Es ist ganz einfach eine Variable, die in spezifischen Konstellationen und Situationen Einfluss auf gesellschaftliches Handeln nimmt. Das eine mal mögen es jene, die das Gewaltmonopol über ein Territorium ausüben, verwenden um ihre Interessen leichter durchzusetzen, ein anderes mal mögen sich lokal konzentrierte Kapitalisten selbiges bedienen um sich gegenüber Konkurrenten in anderen Territorien einen Vorteil zu verschaffen, etc.

 

 

Territorium und (dessen) Reproduktion in gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaften

 

Ausgehend von der fordistischen Hochzeit der 1950er Jahre und der damit verbundenen Transformation der Produktionsverhältnisse, argumentieren die Autoren, dass „new systems of organizing production have developed to enhance profitability in increasingly competitive global markets“[10]. Die oft nachgezeichnete Flexibilisierung und Fragmentierung betreffend den kapitalistischen Arbeitsmarkt ebenso einbeziehend, betonen sie zudem jedoch, dass die daraus entspringenden Klassen- und Geschlechterverhältnisse an verschiedenen Orten verschieden definiert und in weiterer Folge reproduziert wurden.

Und dementsprechend meinen sie auch eine Veränderung der Komponente Raum bzgl. gesellschaftlicher Reproduktion nachzeichnen zu können. Ging es im 19. Jahrhundert noch darum, Raum gesellschaftsintern zu organisieren um abhängige Personengruppen kontrollieren zu können, bleibt in der post-industriellen Phase Raum eher in Bezug auf die Beziehung zwischen Verkäufer und Käufer eine zentrale Komponente.

So oder so lässt sich letztendlich daraus ableiten, dass Territoriums-bezogene Politik einfach ein Resultat des Wettbewerbs von Kapital und Arbeit um die Verteilung lokaler Ressourcen ist, nicht mehr und nicht weniger.


[1] Dear, Michael/ Wolch, Jennifer (Hrsg.); Vorwort

[2] Dear, Michael/ Wolch, Jennifer (Hrsg.); Vorwort

[3] Scott, Allen J./ Storper, Michael (1986); zitiert in: Dear, Michael/ Wolch, Jennifer (Hrsg.); S. 3

[4] Dear, Michael/ Wolch, Jennifer (Hrsg.); S. 4

[5] So wird beispielsweise oft argumentiert, dass technische Entwicklungen verantwortlich für einen Bedeutungsverlust von Raum seien.

[6] Dear, Michael/ Wolch, Jennifer (Hrsg.); S. 6

[7] Im klassischen marxistischen Sprachgebrauch Klassen.

[8] Dear, Michael/ Wolch, Jennifer (Hrsg.); S. 10

[9] Dear, Michael/ Wolch, Jennifer (Hrsg.); S. 11

[10] Dear, Michael/ Wolch, Jennifer (Hrsg.); S. 14

 

 

Dear, Michael/ Wolch, Jennifer (Hrsg.); The Power of Geography. How Territory Shapes Social Life; Unwin Hyman, Boston; 1989

 

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