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Lotman, Jurij (1970); „Künstlerischer Raum, Sujet und Figur“

Lotman versucht in seinem Text dem Raum der Literatur und Kunst nachzugehen. Lotmans Abhandlung ist insofern von Relevanz als er den „symbolischen Raum der Literatur nicht mehr ausgehend vom originären Zentrum eines reflexiven Erfahrungssubjektes“[1] fasst, sondern an die Stelle bewusstseinsphilosophischer und medienanthropologischer Metareflexion tritt bei Lotman der Raum als Erzeugnis kulturell bestimmter Zeichenverwendungen. Dadurch hebt sich Lotman klar von den subjektsbezogenen Ansätzen eines Schmarsows oder Herrmanns ab.


[1] Lüdeke, Roger (2006): Ästhetische Räume. Einleitung. In: Dünne, Jörg / Günzel, Stephan (Hg.) (2006): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Suhrkamp: Frankfurt/Main, S. 457

Das Verhältnis zwischen einzelnen Zeichen, die nach semantischen Wert, linguistischer Struktur, Beschreibungs- und Beziehungsregeln kategorisiert und geordnet sind, bilden die grundlegende Ausgangslage zur Raumkonstitution von Literatur und Kunst. „[H]inter der Abbildung der Dinge und Gegenstände, in deren Umgebung die Figuren des Textes handeln, entsteht ein System räumlicher Relationen, die Struktur des Topos“[1].

Diese vernetzte Struktur unterschiedlicher Zeichenverwendungen desselben Systems ist nicht nur literarischer und künstlerischer Raum, sondern erlaubt zugleich auch z.B. ein bestimmtes „Wort von allen anderen zu unterscheiden“[2]. „Die allgemeinsten sozialen, religiösen, politischen und moralischen Modelle der Welt, mit Hilfe derer der Mensch in den verschiedenen Etappen seiner Geistesgeschichte das ihn umgebende Leben begreift, sind stets mit räumlichen Charakteristika versehen, etwa in der Art der Gegenüberstellung ´Himmel – Erde´ oder ´Erde – unterirdisches Reich´ […], oder in der Form einer sozial-politischen Hierarchie mit markierter Opposition von ´Oberen´ und ´Unteren´, oder in der Art der moralischen Merkmalhaltigkeit der Opposition ´rechts – links´ […]“[3].

Bei Lotman ist jedoch zu beachten, dass es ihm nicht um eine Raumtheorie sondern „nur“ um ein Raummodell geht, das eine Theorie der narrativen Handlung darstellen soll. „Dementsprechend definiert Lotman narrative Handlung ausgehend von jenen semantischen Merkmalen, Regeln oder Normen, die im Text als ´normal´ für bestimmte Bedingungen, Räume, Zeiten, Figuren oder Situationen der dargestellten Wirklichkeit gesetzt werden. Die für narrative Texte konstitutiven semantischen Teilbereiche unterscheiden sich voneinander dadurch, dass sie in mindestens einem der genannten Aspekte in Opposition zueinander stehen“[4].

Lotmans Raumansatz ist, wie zeitgleich auch von anderen Vertretern des literaturwissenschaftlichen Strukturalismus vertreten, von begrifflicher Topologie, semiotisch-strukturalen Ansätzen und linguistischen handlungskonstitutiven räumlichen Relationen und Teilbereichen von Symbolzusammenhängen bestimmt. Lotman grenzt sich jedoch zu anderen strukturalistisch-semiotischen Ansätzen dadurch ab, „dass er die semantischen Konstitutionsaspekte der Raumrepräsentation auf die Analyseebene der Pragmatik und des kulturhistorisch-lebensweltlichen Kontexts öffnet. Entsprechend der funktionstheoretischen Ausrichtung seiner Kultursemiotik fasst Lotman die semantisierten Räume narrativer Texte als Reflex einer je spezifischen und kulturhistorisch bestimmten Deutung der Wirklichkeit, in den Worten Cassirers also als historisch bestimmte ´Sinnform´.“[5]

Dadurch erhält Lotmans Literatur- und Kunstraumdeutung eine gewisse Nähe zur Kritischen Theorie und beinhaltet ein revolutionäres Element. Insofern nämlich als Texte mit Handlungen und Bedeutungen die Möglichkeit haben historisch und sozial als „normal“ angesehene Sinn-, Normen- und Wertsysteme einer Gesellschaft zu durchbrechen. „Schon auf der Ebene supratextuellen, rein ideologischen Modellierens erweist sich die Sprache der räumlichen Relationen als eines der grundlegenden Mittel zur Erfassung der Wirklichkeit.“[6]

In jüngerer Zeit steht Lotmans Ansatz immer stärker in einem Konkurrenzverhältnis zu konsequent kommunikationstechnisch orientierten Ansätzen. „Solche Untersuchungen beschreiben medien- und diskurstechnisch induzierte Raummodelle über mediale Leitdifferenzen […] und beanspruchen dabei, aus den materiellen Vorraussetzungen sozialer Kommunikation die medientechnischen Möglichkeitsbedingungen zu erschließen […]. […] Die Herausforderungen für einen medienreflexiven Raumbegriff betreffen vor allem den Übergang von Schrift- zu technischen Medienkulturen, in dem die Konkurrenz zwischen fiktionalen und simulativen Repräsentationstechniken eine maßgebliche Steigerungsdynamik erfährt“[7].

Gerade diese jüngsten globalisierten kommunikationsstrukturalistischen Entwicklungen wurden in Lotmans Ansätzen nicht ausreichend berücksichtigt – was aber natürlich historisch bedingt war, da die gesamte Tragweite der Globalisierungsdynamik erst nach 1989 ersichtlich wurde. Wobei aber gerade die kommunikationsstrukturalistisch bedingten symbolischen Räume immer stärker an Bedeutung gewinnen und dennoch auch in Literatur- und Kunsträumen untersucht und in theoretischen Ansätzen bedacht werden müssen.


[1] Lotman, Jurij (1970): Künstlerischer Raum, Sujet und Figur. In: Dünne, Jörg / Günzel, Stephan (Hg.) (2006): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Suhrkamp: Frankfurt/Main, S. 532

[2] Zit. nach Lüdeke a.a.O. S. 457; de Saussure, Ferdinand (1916): Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaften. Hg. von Bally, Charles / Sechehaye, Albert (1967), de Gruyter: Berlin, S. 140

[3] Lüdeke a.a.O. S. 530 f.

[4] Lüdeke a.a.O. S. 457

[5] Lüdeke a.a.O. S. 458 f.

[6] Lotman a.a.O. S. 530

[7] Lüdeke a.a.O. S. 460 f.

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