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Simmel, Georg (1903); „Über räumliche Projektionen sozialer Formen“

Georg Simmel sieht in vorliegendem Text den Untersuchungsgegenstand Raum im Gegensatz zum damaligen (Anfang des 20. Jahrhunderts) Mainstream, oder zumindest zur alltäglichen Anschauung. Er wendet die Kausalkette gewissermaßen um, hinterfragt die Wirkung sozialer Vorgänge auf Raumgestaltung (und war damit einer der Ersten!).

Gebietshoheit, die Herrschaft über räumliche Gebiete ist für Simmel der(!) Ausdruck menschlicher Herrschaftsübung (über Menschen). Simmel begreift also nicht die Beherrschung von Gebiet als Beherrschung der darauf lebenden Menschen, sondern umgekehrt; sie ist bloße Abstraktion, Formulierung der Herrschaft über Personen. An welchen Orten sich die Beherrschten befinden, ist letztendlich nicht ausschlaggebend; daraus ergibt sich eine Unendlichkeit punktueller Möglichkeiten.

Personenbeherrschung ist also nie direkte Folge von Bodenbeherrschung (entgegen mancher historischer Beispiele, die Simmel selbst anführt). Ganz im Gegenteil, muss Ersteres immer ein besonderer Zweck sein, eine ausdrückliche Absicht – und somit „durch besondere Normen oder Machtübungen hergestellt“[1]. Folgerichtig ist Zweiteres etwas Sekundäres, die Folge.

Konsequenteste materiale Ausformulierung – und somit Unterstreichung von Simmel’s Argumentationslinie – ist die Anpassung des Regierungssitzes an die jeweilige Staatsform (Beispiele: zentral liegende Hauptstadt in zentralistischen Staaten/ Verlegung der Hauptstadt nach Änderung der Staatsform/ Fehlen eines fixen Regierungssitzes nach Umbildung des germanischen Staates nach den Karolingern in einen föderativen Reichsverband/ etc.).

Aber nicht nur in Bezug auf das örtliche Machtzentrum, sondern über das gesamte Gebiet verteilt, veranschaulichen sich die soziologischen Beziehungsformen der Herrschaft in der Fixierung und Verschiebung von Raumpunkten.

Simmel führt außerdem Universitäten, Clubs, Gewerkschaften, religiöse Gemeinden und andere Vereinigungen als Beispiele an, die ebenfalls ihre „gesellschaftliche Vereinheitlichungen in bestimmte räumliche Gebilde umsetzen“[2].

Darin sieht Simmel einen soziologischen Charakterunterschied zu „freischwebenden Verbindungen, wie Freundschaften oder Unterstützungsvereine, Genossenschaften […], politische Parteien“[3], u.ä.

Als dritten Typus macht Simmel jene größeren Gebilde aus, die nicht selbst, jedoch deren Einzelteile je ein Gebäude besitzen (die Kirche und ihre Gemeinden/ die Armee und ihre Kompanien/ die Großfamilie und ihre Häuser/ etc.).

Allerdings schränkt Simmel ein, dass die bauliche Ausformung nur eine Form des Ausdrucks einer Vergesellschaftung ist. Zusätzlich muss Folgendes beachtet werden: „die wirkliche Struktur einer Vergesellschaftung wird keineswegs durch ihr soziologisches Hauptmotiv allein bestimmt, sondern durch eine sehr große Anzahl von Verbindungsfäden und Verknotungen der selben, von Verfestigungen und Flüchtigkeiten, die alle in Bezug auf das soziologisch Entscheidende: die Bildung einer Einheit aus einer Vielheit – nur graduelle Unterschiede der Wirksamkeit aufweisen“[4].

Das Haus einer Gemeinschaft besitzt hier seine Relevanz natürlich nicht als ökonomischer Besitz, als Gegenstand, sondern als Symbol, als Formulierung des Gesellschaftsgedankens (man bedenke nur die Doppeldeutigkeit der Termini Kirche, Universität, Klub, o.ä.).

Der leere Raum gewinnt so letztendlich eine Bedeutung, in der sich bestimmte soziologische Beziehungen ausdrücken. Es handelt sich hierbei „um derartige räumliche Bestimmtheiten als Folgen anderweitiger gesellschaftlicher Bedingungen“[5]. So sind materiale Verräumlichungsstrategien die am Raum realisierte anschauliche Verkörperung typischer Gegenseitigkeitsverhältnisse zwischen Individuen oder Gruppen.

Und an dieser Stelle konzentriert sich Simmel’s Betrachtung zunehmend auf die Rolle des unbewohnten Raums, dessen Neutralität ihn zu positiven Diensten befähigt. Er ist nicht mehr nur trennend, sondern kann verbinden. Begegnungen im Raum, der niemandem gehört, der unparteilich ist, der niemandem dauernde Sicherheit gewährt, sind für Simmel eine durchwegs positive „Verhaltungsweise“[6]; diese Teile des Raums geben zwar ganz bestimmte Möglichkeiten von Beziehungen, sind aber dennoch von sich aus völlig indifferent. „Von allen Potenzen des Lebens ist der Raum am meisten die zur Anschauung gewordene Unparteilichkeit“[7]. Simmel gesteht dem Raum zu, jeder Person gegenüber keinerlei Präjudiz zu haben. Und, das unbewohnte Terrain ist einfach nur Raum, und eben bloß Raum.

Es ist nicht Grenze, sondern Gebiet, wo sich Parteien begegnen, ohne dass sie ihr jeweiliges Gebiet wirklich verlassen, oder zumindest anderes nicht betreten müssen. Somit wird neutraler Raum zu einem bedeutsamen soziologischen Typus; wichtig für das Entgegenkommen zwischen Parteien, die im Konflikt miteinander stehen. Einfach eine Möglichkeit für Begegnung, und somit „Träger und Ausdruck soziologischer Wechselwirkung“[8].



[1] Simmel, Georg (1903); Über räumliche Projektionen sozialer Formen, in: Dünne, Jörg/ Günzel, Stephan (Hrsg.); Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften; Suhrkamp Taschenbuch Verlag; Frankfurt am Main, 2006; S. 305

[2] Ebenda, S. 307

[3] Ebenda, S. 307

[4] Ebenda, S. 307 f.

[5] Ebenda, S. 310

[6] Ebenda, S. 313

[7] Ebenda, S. 313

[8] Ebenda, S. 315

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