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Lacan, Jaques (1954); „Die Topik des Imaginären“

Jaques Lacan konzentriert sich in seinen Schriften auf die Entwicklung des einzelnen Subjekts, das mikrostrukturell ähnlichen Prozessen ausgesetzt ist wie die Menschheit als Ganzes. Lacan bezieht sich in seinen Darstellungen – gerade auch in dem Text „Die Topik des Imaginären“ – auf Freuds Konzept der „Psychischen Topik“.[1]

Im vorliegenden Textauszug selbst beschäftigt sich Lacan mit einem Beispiel anhand dessen er sein Experiment des Spiegelstadiums zu verdeutlichen versucht. Prinzipiell dient das Spiegelstadium als Darstellungsmöglichkeit von nicht sichtbaren psychischen Prozessen, um die Idee – wie schon erwähnt in enger Anlehnung an die freud´schen Theorien – einer „psychischen Lokalität“ zu veranschaulichen. Um seine Herangehensweise zu verdeutlichen bediente sich Lacan der grundlegenden Hypothesen der Optik. Für Lacan ist die Optik neben der Mechanik und der Geometrie eine, innerhalb einer Fülle an entlehnten Veranschauungsmodellen, denen sich die Wissenschaft der Psychologie bedient, um im Bereich Lokalisierungsforschung adäquate Ansätze der Veranschaulichung zu entwickeln, anhand dessen „psychische Lokalisierung“ des Ichs, Ego und Es in partikulären Bereichen des Gehirns verortet werden können.

Nebst seinem prinzipiellen Rückgriff auf die Optik als Veranschauungsmodell führt Lacan entlang der grundsätzlichen Hypothesen der Optik in die immanente Wichtigkeit der Trennung zwischen realem und virtuellem Raum ein. Auf der Trennung bzw. Unterscheidung dieser beiden miteinander in enger Relation stehender Begriffe fußt nachfolgendes Experiment. Ohne eine perzeptionelle Trennung dieser beiden Sphären wäre ein Verständnis des Spiegelstadiums und dessen Bedeutung für den Raumdiskurs völlig unmöglich. „Die optischen Bilder weisen eigenartige Verschiedenheiten auf – einige sind rein subjektiv, das sind die, die man virtuell nennt, während andere real sind, das heißt, sich, von bestimmten Seiten, wie Objekte verhalten und als solche behandelt werden können. […] Eine Sache ist doch noch überraschender, nämlich die, dass die Optik vollständig auf einer mathematischen Theorie beruht, ohne die es absolut unmöglich ist, sie zu strukturieren. Damit es eine Optik gebe, muss jedem gegebenen Punkt eines realen Raumes ein und nur ein Punkt in einem anderen Raum korrespondieren, der der imaginäre Raum ist. Das ist die grundlegende strukturelle Hypothese.“[2]

Die Vermischung von Subjektivität und Realität, von real und virtuell, wird zu einem Paradigma der Optik, das entlang der Erfahrung von Erkenntnisfähigkeit zum einen eine klare Trennung zwischen real und virtuell erlaubt, zum anderen eben diese Trennung unmöglich macht. Darüber hinaus kann der Fall eintreten, dass etwas subjektiv Virtuelles als real gesehen wird, obwohl man sich bewusst ist, dass es keinesfalls real sein kann. „Der imaginäre Raum und der reale Raum mischen sich auch hier. […] Wenn sie einen Regenbogen sehen, sehen sie etwas vollkommen Subjektives. Sie sehen ihn in einer bestimmten Entfernung, die zur Landschaft hinzukommt. Er ist nicht da. Das ist ein subjektives Phänomen. Und dennoch können sie ihn mit einem photographischen Apparat vollkommen objektiv aufnehmen. Nun, was hat es damit auf sich? Wir wissen nicht mehr so recht, nicht wahr, wo das Subjekte, wo das Objektive ist.“[3]

Um sein Spiegelstadium zu verdeutlichen, bedient sich Lacan eines klassischen Experiments, das er von Henri Bouasse übernommen und für seine Zwecke adaptiert hat: Dem „Experiment vom umgekehrten Blumenstrauß“[4]:

Bouasse_umgekehrten Blumenstrauß

Durch dieses Apolog versucht Lacan die engen Verknüpfungen und Verwirrungen zwischen Realität und Virtualität auf zu zeigen. Im Text wird das Experiment von Lacan ausführlich erläutert und kommentiert, was für diese Zusammenfassung jedoch nicht weiter notwendig ist, weil Lacan am Ende seiner experimentellen Betrachtung schreibt: „sicher, dies Schema soll nichts von dem berühren, was substantiell mit dem in Beziehung steht, was wir in der Analyse behandeln, die real oder objektiv genannten Beziehungen, oder die imaginären Beziehungen. Aber es erlaubt uns, auf besonders einfache Weise das zu illustrieren, was aus der innigen Verschränkung der imaginären Welt und der realen Welt in der psychischen Ökonomie resultiert […]“[5].

Das Blumenstrauß-Experiment dient Lacan als Metapher zur Verdeutlichung der beiden Axiome Real und Virtuell, die erst dann ihre ganze Tragweite entfalten, wenn Lacan die beiden Begriffe auf sein eigentliches Erkenntnisinteresse in Bezug auf seinen Raumzugang umzumünzen beginnt. Lacans psychoanalytische Raumperzeption ist eng verankert mit der grundsätzlichen Spaltung zwischen Real und Virtuell: Das „Ur-Ich“ oder „Lust-Ich“ (dem Lacan ein eigenes Gebiet in der persönlichen Selbstwahrnehmung zuspricht) konstituiert sich erst durch eine Spaltung bzw. Unterscheidung von der Außenwelt. Das innere Eingeschlossene definiert sich durch den Prozess der Ausstoßung und der Projektierung des außenliegenden Abgewiesenen.

Für Lacan ist die physiologische Reifung zur aller erst einmal ein Prozess der virtuellen Reflexion des Subjekts und erst in zweiter Instanz die „wahre“ reale Erlangung der totalen Beherrschung des eigenen Körpers. „Das ist es, worauf ich in meiner Theorie des Spiegelstadiums insistiere – der bloße Anblick der vollständigen Form des menschlichen Körpers verschafft dem Subjekt eine imaginäre Beherrschung seines Körpers, die gegenüber der realen Beherrschung verfrüht ist“[6].

Lacan zufolge ist diese virtuelle, erste differenzierte Selbstreflexion der Ich-Erfahrung die wesentliche Dimension des Menschlichen, auf die sein gesamtes späteres Phantasieleben strukturierend aufbaut. „[A]uf dieser Ebene gibt das Körperbild dem Subjekt die erste Form, die ihm erlaubt, das zu situieren, was Ich ist, und das, was es nicht ist. Nun, sagen wir, dass das Körperbild, wenn man es in unser Schema einsetzt, wie die imaginäre Vase ist, die den realen Blumenstrauß enthält. So also können wir uns das Subjekt vor der Geburt des Ich vorstellen und das Auftauchen dieses Ich“[7].

Insofern gelangt Lacan zu seiner deutungsschweren Formel, die seine räumliche Leiblichkeitstheorie so hervorragend beschreibend im Stande ist: „Das Unbewusste ist der Diskurs des andren“[8].

Erst durch das reale Äußere kann sich das vorerst nur virtuelle Innere als reale räumlich-leibliche Beherrschung des Ichs (eines Subjektes) konstituieren. Und dieser, nennen wir es prozesshaften Vorgang beschränkt sich nicht nur auf die primäre Ersthervorbringung des Ichs und in weiterer Folge das Ego, sondern gilt genauso für alle weiteren Erfahrungen, die ein Subjekt im Laufe seiner Entwicklung macht.



[1] Vgl. Dünne, Jörg / Günzel, Stephan (Hg.) (2006): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Suhrkamp: Frankfurt/Main, S. 198 f.

[2] Lacan, Jaques (1954): Die Topik des Imaginären. In: Dünne, Jörg / Günzel, Stephan (Hg.) (2006): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Suhrkamp: Frankfurt/Main, S. 213.

[3] Ebenda, S. 213 f.

[4] Bouasse, Henri (1947): Optique et photométrie dites géométriques. Delagrave: Paris, S. 86.

[5] Lacan a.a.O. S. 216

[6] Ebenda, S. 217

[7] Ebenda, S. 218

[8] Ebenda, S. 222

1 Gedanke zu „Lacan, Jaques (1954); „Die Topik des Imaginären““

  1. Ein gut verständiger Text, der die Komplexität eines Lacan´s gut zusammenfasst. Der Begriff des Axioms paßt dort.
    Die wesentliche Frage nun: dort wo die Lokalität eines Raumes sich öffnet, dort wo ICH einen wenn auch virtuellen Raum einnimmt und prozesshaft zur Realität wird, ist die Frage notwendig: Wer oder was ist der Andere? Es bleibt doch eine Wirklichkeit des Anderen, die immer den Versuch fordert in Beziehung zu treten, mit etwas, das immer Fremd anders bleibt. Der oder das Andere ist kein Objekt und gibt sich niemals ganz hin und ist auch niemals zu harmonisieren – Anderes ist immer nur in der Differenz in der Unterscheidung zu erkennen und zu erfahren. So ist das ICH losgelöst und existiert nur aus sich selbst heraus und kann deshalb anderes erkennen. Das Andere kann deswegen so auch zum Heiligen, zur Freiheit werden.Durch diese Art der virtuell-realen Spiegelung gibt es auch eine Spur zum Begriff der Verantwortung, die zu übernehmen sei, zur Moral und Ethik – aber auch zur Last und Gewalt, zur befehlenden Liebe, zur Religion der Offenbarung, in der Gott als der Andere zum Menschen spricht und nicht mehr in ihm. Na ja: Hierzu gibt es einiges an Erfahrungen und Theorien, wie z.b . Emanuel Levinas, Georg Bataille, Derrida…die Grundfragen moderner Philosophie und Existenz.

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