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Heidegger, Martin (1927); „Die Räumlichkeit des Daseins“

Heidegger betont und begründet die phänomenologische Idee des Raumes in der Zeit. Dabei grenzt er sich klar von „archäologischen Ansätzen“ bei Husserl oder den „geologischen Ansätzen“ von Merleau-Ponty ab. Für ihn besteht der Vorgang der Ergründung des Raumes in der „Destruktion“ der metaphysischen Systeme, das sich als transzendentale Beschreibung über die ursprüngliche Erfahrung gelegt hat. Insofern geht es Heidegger um eine neue Ontologie, befreit von den Irrtümlichkeiten der vorangegangenen Raumdiskursentwicklungen. Zentraler Irrtum und zugleich erste Begründung für seinen neuen Ansatz, ist die Diagnose, dass die Welt als Ganzes im philosophischen Bereich immer nur bezeichnet und nicht, wie notwendig, als Erfahrung von Wirklichkeit gedacht wurde.

Im vorliegenden Textauszug aus „Sein und Zeit“ geht es um die räumliche „Hervorbringung“ des Seins und deren Ausdehnung in der Welt.

Zu Beginn seiner Ausführungen stellt sich Heidegger der Frage wie das Sein Räumlichkeit einnehmen kann; d. h. wodurch das räumlich Seiende begriffen werden kann, wenn man davon ausgeht, dass Dasein Räumlichkeit besitzt. In Beantwortung dieser Frage ist es für Heidegger zentral, dass die Räumlichkeit des Daseins kein wesenhaftes Vorhandensein ist – insofern es kein Vorkommen an einer bestimmten Stelle des „Weltraumes“ besitzt – sondern vielmehr als räumliches Dasein in der Welt, im Sinne „des besorgend-vertrauten Umgangs mit dem innerweltlich begegnenden Seienden“[1] zu begreifen ist. Dieses Verständnis von raumgreifenden Dasein besitzt nach Heidegger zwei Charakteristiken: die Ent-fernung und die Ausdehnung.

Wobei mit Ent-fernung nun keineswegs so etwas wie Entferntheit (Nähe) oder gar Abstand gemeint ist. Insofern ist die Ent-fernung keine messbare aktive oder transitive Größe zwischen z.B.: zwei Punkten, sondern vielmehr das in der nähe liegende „Hervorbringungspotenzial“ alles Seins. „Das Ent-fernen ist zunächst und zumeist umsichtige Näherung, in die Nähe bringen als beschaffen, bereitstellen, zur Hand haben. […] Im Dasein liegt eine wesenhafte Tendenz auf Nähe[2].

Dadurch liegt im Begriff Ent-fernen keine koordinatorische Abschätzung zwischen dem Ding in der Ferne und dem gegenwärtigen „Dasein“ begraben. Insofern kann die Entferntheit nicht als Abstand zu etwas gefasst werden. Daraus deduziert Heidegger, dass maßstäbliche Abschätzungen von Entferntheit im Bezug auf das Dasein nur aus der besorgenden Alltäglichkeit abgeleitet werden kann. Diese alltägliche Bestimmtheit von Abstand ist jedoch nur erfahrbar, wenn sich die quantitative mathematische Erstreckung der Alltäglichkeit des Daseins unterordnet; Gerade weil die umgänglichen Wege zu entferntem Seienden jeden Tag verschieden lang sein können. „Man ist geneigt, aus einer vorgängigen Orientierung an der „Natur“ und den „objektiv“ gemessenen Abständen der Dinge solche Entfernungsauslegung und Schätzung für „subjektiv“ auszugeben. Das ist jedoch eine „Subjektivität“, die vielleicht das Realste der „Realität“ der Welt entdeckt, die mit „subjektiver“ Willkür und subjektivistischen „Auffassungen“ eines „an sich“ anders Seienden nichts zu tun hat. Das umsichtige Ent-fernen der Alltäglichkeit des Daseins entdeckt das An-sich-sein der „wahren Welt“, des Seienden, bei dem Dasein als existierendes je schon ist[3].

Durch diese zunächst ausschließliche Orientierung an Entferntheiten als gemessenen Abständen wird die ursprüngliche Ontologie der Räumlichkeit des In-Seins verdeckt. Die Auffassung, dass die Dinge die für den Menschen am nächsten liegen somit als erstes Erfahrbar werden, ist ein Trugschluss, der in der phänomenologischen Perzeption vom Wesen der räumlichen Entferntheit begraben liegt. „Für den, der zum Beispiel eine Brille trägt, die abstandsmäßig so nahe ist, daß [sic] sie ihm auf der „Nase sitzt“, ist dieses gebrauchte Zeug umweltlich weiter entfernt als das Bild an der gegenüber befindlichen Wand. Dieses Zeug hat so wenig Nähe, daß [sic] es oft zunächst gar nicht auffindbar wird. […] Über Nähe und Ferne des umweltlich zunächst Zuhandenen entscheidet das umsichtige Besorgen. Das, wobei dieses im vorhinein sich aufhält, ist das Nächste und regelt die Ent-fernungen“[4].

Für Heidegger ist die räumliche Erfahrbarkeit von Dingen vielmehr die umsichtige Möglichkeit einer Begegnung, die vor allem in einer Konfrontation mit dem besorgenden In-der-Welt-sein abläuft. „In der Nähe besagt: in dem Umkreis des umsichtig zunächst Zuhandenen. Die Näherung ist nicht orientiert auf das körperbehaftete Ichding, sondern auf das besorgende In-der-Welt-sein, das heißt das, was in diesem je zunächst begegnet. Die Räumlichkeit des Daseins wird daher auch nicht bestimmt durch Angaben der Stelle, an der ein Körperding vorhanden ist“[5].

Dadurch wird das In-der-Welt-sein wesenhaft und charakterisiert sich durch Ferne. Wobei die nicht messbare – so weithin „subjektive“ – Ent-fernung von der Ferne des Zuhandenen (z.B.: Brille) stets unterscheidbar bleibt. An dieser markanten Stelle treffen wir wieder auf das Wesen vom Dasein: nämlich der Tendenz der Nähe. Jedoch wird die Ferne als Antonym und somit polarisierend verstanden. „Das Dasein kann im jeweiligen Umkreis seiner Ent-fernungen nicht umherwandern, es kann sie immer nur verändern. Das Dasein ist räumlich in der Weise der umsichtigen Raumentdeckung, so zwar, daß [sic] es sich zu dem so räumlich begegnenden Seienden ständig ent-fernend verhält“[6].

Dadurch gelang es Heidegger dem Dasein – als ent-fernendes In-sein – einen weiteren räumlichen Charakter zu verpassen: Die Ausrichtung wird zu einem weiteren a priori vorhandenen räumlichen Wesensmerkmal des Daseins. „Wenn Dasein ist, hat es als ausrichtend-entfernendes je schon seine entdeckte Gegend. Die Ausrichtung ebenso wie die Ent-fernung werden als Seinsmodi des In-der-Welt-seins vorgängig durch die Umsicht des Besorgens geführt. […] Aus dieser Ausrichtung entspringen die festen Richtungen nach rechts und links. So wie seine Ent-fernungen nimmt das Dasein auch diese Richtung ständig mit. […] Zu beachten bleibt aber, daß [sic] die Ausrichtung, die zur Ent-fernung gehört, durch das In-der-Welt-sein fundiert ist“[7].

Jedoch, anders als Kant der das „bloße Gefühl“[8] schon als hinreichende Erklärung für Subjekte und deren Ausrichtung im Raum betrachtet, begnügt sich Heidegger mit diesem Denkansatz keineswegs. Heidegger geht noch einen Schritt weiter. Durch das „bloße Gefühl“ ist nicht nur die wahrhafte Verfassung eines Subjekts bestimmt, sondern gar schon seine Bestimmung in der Welt. Ja sogar die Frage seiner Existenz wird beantwortet, da „das Dasein mit diesem „bloßen Gefühl“ je schon in einer Welt ist und sein muß [sic], um sich orientieren zu können“ [9]. Für Heidegger ist ein „bloßes Gefühl“ ausreichend um das Dasein in dessen Existenz hervorzubringen.

 

Bis an diesen Punkt des vorliegenden Textes konnte Heidegger die immanente Verbindung zwischen Dasein und Räumlichkeit verdeutlichen. Bis dato wurde aber noch kein Wort über den Raum an sich verloren. Dem dreidimensionalen metrischen Raumparadigma wendet sich Heidegger im folgenden zu: „Nunmehr ist gezeigt: das umsichtige In-der-Welt-sein ist räumliches. Und nur weil Dasein in der Weise von Ent-fernung und Ausrichtung räumlich ist, kann das umweltlich Zuhandene in seiner Räumlichkeit begegnen. […] Der so mit der Weltlichkeit der Welt erschlossene Raum hat noch nichts von der reinen Mannigfaltigkeit der drei Dimensionen. Der Raum bleibt bei dieser nächsten Erschlossenheit noch verborgen als reine Worin einer metrischen Stellenordnung und Lagenbestimmung“[10].

Für Heidegger ist Raum jedoch unerlässlich: Ohne Raum lässt sich kein Dasein um-, weg- und einräumen. Zunächst bedeutet Raum ein existentieller Teil des Daseins. Wobei dieser Existentialismus des Raumes nicht nur das Dasein hervorbringt, sondern zugleich – und das klingt etwas paradox – den Raum überhaupt erst erschließbar und somit erfahrbar macht. „Der Raum ist weder im Subjekt, noch ist die Welt im Raum. Der Raum ist vielmehr „in“ der Welt, sofern das für das Dasein konstitutive In-der-Welt-sein Raum erschlossen hat. Der Raum befindet sich nicht im Subjekt, noch betrachtet dieses die Welt, „als ob“ sie in einem Raum sei, sondern das ontologisch wohlverstandene „Subjekt“, das Dasein, ist in einem ursprünglichen Sinn räumlich. Und weil das Dasein in der beschriebenen Weise räumlich ist, zeigt sich der Raum als Apriori. […] Apriorität besagt hier: Vorgängigkeit des Begegnens von Raum (als Gegend) im jeweiligen umweltlichen Begegnen des Zuhandenen“[11]. Somit tritt der Raum erst durch eine umsichtige Thematisierung der Umwelträumlichkeit in den Blick des Erschließbaren. Der Raum selbst bleibt daher als pures Räumlichsein nach wie vor verdeckt, aber er kann sich eben durch das Dasein gemäß seines In-der-Welt-seins wesenhaft in der Welt zeigen.

Trotzdem bleibt auf diese Weise die Art des Seins des puren Raumseins verborgen. Daher hat das Sein des Raumes auch nicht die Seinsart des Daseins.

In der Vergangenheit haben nun Philosophen ständig versucht eine abstrakt-beschreibende Begrifflichkeit des Raumes einzuführen, um eben dieses Problem zu umschiffen. Heidegger geht nun einen völlig anderen, neuen Weg. Auf gut Deutsch, ist es ihm schlichtweg egal und gleichgültig wie die phänomenologische Ausgestaltung des Raumes nun aussieht: „Daraus, daß [sic] das Sein des Raumes selbst nicht in der Seinsart der rex extensa begriffen werden kann, folgt weder, daß [sic] er ontologisch bestimmt werden muß [sic] als „Phänomen“ dieser res – er wäre im Sein nicht von ihr unterschieden – noch gar, daß [sic] das Sein des Raumes dem der res cogitans gleichgesetzt und als bloß „subjektives“ begriffen werden könnte, von der Fragwürdigkeit des Seins dieses Subjektes ganz abgesehen. […] Das Entscheidende für das Verständnis des ontologischen Raumproblems liegt darin, die Frage nach dem Sein des Raumes aus der Enge der zufällig verfügbaren und überdies meist rohen Seinsbegriffe zu befreien und die Problematik des Seins des Raumes im Hinblick auf das Phänomen selbst und die verschiedenen phänomenalen Räumlichkeiten in die Richtung der Aufklärung der Möglichkeiten von Sein überhaupt zu bringen. […] Raum kann erst im Rückgang auf die Welt begriffen werden. Der Raum wird nicht allein erst durch die Entweltlichung der Umwelt zugänglich, Räumlichkeit ist überhaupt nur auf dem Grunde von Welt entdeckbar, so zwar, daß [sic] der Raum die Welt doch mitkonstituiert, entsprechend der wesenhaften Räumlichkeit des Daseins selbst hinsichtlich seiner Grundverfassung des In-der-Welt-seins“[12].

 

Somit ist für Heidegger der Raum kein zu begreifender abstrakter Begriff, sondern immer nur eine im Kontext des Daseins zugängige wesenhafte Vorstellung des In-der-Welt-seins.


[1] Heidegger, Martin (1927): Die Räumlichkeit des Daseins. In: Dünne, Jörg / Günzel, Stephan (Hg.) (2006): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Suhrkamp: Frankfurt/Main, S. 141.

[2] Heidegger a.a.O. S. 142

[3] Heidegger a.a.O. S. 143

[4] Heidegger a.a.O. S. 144

[5] Heidegger a.a.O. S. 144

[6] Heidegger a.a.O. S. 145

[7] Heidegger a.a.O. S. 145

[8] Kant, Immanuel (1786): Was heißt: sich im Denken orientieren? In: Dünne, Jörg / Günzel, Stephan (Hg.) (2006): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Suhrkamp: Frankfurt/Main, S. 80-82.

[9] Heidegger a.a.O. S. 146

[10] Heidegger a.a.O. S. 147

[11] Heidegger a.a.O. S. 148

[12] Heidegger a.a.O. S. 150

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