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Systemtheorie senso Luhmann

Eines gleich einmal vorweg: Nach der Lektüre von „Soziale Systeme“ (Luhmann: 1984), einiger Sekundärquellen und der Durchsicht von „Einführung in die Systemtheorie“ (Luhmann: 2002 – Eine Transkription der von Luhmann gehaltenen Vorlesung an der Uni Bielefeld) wurde für mich rasch klar, dass sich eine Zusammenfassung der luhmann´schen Theorie ausgesprochen schwierig gestalten wird.  Im folgenden möchte ich daher nur versuchen die Systemtheorie nach Luhmann in dessen Eckpunkten zu skizzieren. Die Darstellung erhebt natürlich keinesfalls den Anspruch die Systemtheorie in ihrer Gesamtheit darzustellen, sondern ist eine Widerspiegelung dessen, was mir als besonders interessant während der Lektüre ins Auge gesprungen ist. Die Anfänge dieses äußerst komplexen Theoriegebäudes finden sich in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Aus einer anfänglich biologischen Theorie entwickelte sich mit der Zeit ein umfangreiches fächerübergreifendes Theoriemodell, das Luhmann – und das ist zweifelsfrei eine hoch anzurechnende Leistung – für die Sozialwissenschaften und im Speziellen für die Soziologie adaptierte. Luhmann nennt die Systemtheorie eine „Supertheorie“ mit umfassenden Anspruch sowohl als Welterklärungsmodell als auch für deren Selbstreflexion. Insofern muss die Systemtheorie neben der Realitätserklärung immer auch sich selbst als Theorie berücksichtigen und Systemimmanent erklären können.
Infolgedessen ortete Luhmann auch zwei zentrale Paradigmenbrüche: Erstens ist der wissenschaftliche Beobachter immer auch Teil der Untersuchung. Das heißt, der Wissenschaftler kann nie objektiv betrachtet werden, sondern ist immer auch ein unentkoppelter zu berücksichtigender Teil des Untersuchungsgegenstandes. Zweitens kommt es zu einem fundamentalen Bruch in der wissenschaftlichen Betrachtungsperspektive. Das Teil/Ganzes Paradigma wird abgelöst durch eine Sichtweise auf die Welt die als Geflecht von Relationen zwischen einzelnen Elementen zu interpretieren ist.
Dementsprechend ist ein System dadurch bestimmt, dass der Blick von der Betrachtung von Einzelsubjekten hinwechselt auf die Betrachtung der Relationen zwischen einzelnen Subjekten. Als zentrale Analyse führt Luhmann die Differenz der System/Umwelt Differenz ein und unterscheidet im weiteren dadurch zwischen verschiedenen Systemen die aus einer derartigen Betrachtungsweise zu beobachten sind:
Im groben trennt er zwischen offenen (autopoietischen) und geschlossenen Systemen. Offene System sind nicht berechenbar und orientieren sich in deren Organisation an sich selbst. In dem Sinne sind sie in ihrer Entwicklung selbstorganisiert also autopoietisch. Geschlossene System (auch Trivialmaschinen genannt) sind dem gegenübergestellt berechenbar determiniert und erlauben eine vorhersehbare Entwicklung und sind darüber hinaus von „äußeren“ künstlich geschaffenen Inputs in deren Weiterentwicklung abhängig. Im weiteren beschränkt sich Luhmann auf die Analyse von offenen Systemen, die er noch weiter einschränkt.

Zentral bei der Betrachtung und Funktion von Systemen sind zum einen die Kommunikation und zum anderen der autopoietische Operationsmodus. Aus diesen beiden Kategorien ergibt sich das Paradox von offenen, geschlossenen Systemen. Gemeint ist aber damit nichts anderes, als der Anspruch, dass Systeme autonom nicht jedoch autark funktionieren und stets in einem selbstreferenziellen Ordnungszusammenhang zu sehen sind. Luhmann unterscheidet nach basalen Kriterien eine Fülle an verschiedenen möglichen Systemen (als Beispiele: organische Systeme haben das Leben als basales Kriterium; soziale Systeme bedienen sich der Kommunikation als basales Ordnungsinstrument; psychische Systeme sind basal nach dem Bewusstsein charakterisiert; usw. usw.).
In seiner Analyse beschränkt sich Luhmann schlussendlich auf die genauere Untersuchung von psychischen und sozialen Systemen. Innerhalb des sozialen Systems gibt es zusätzliche Steigerungsformen und mehrere Ebenen mit unterschiedlich komplexer Kommunikation. Luhmann ordnet demnach auch nach dem Grad der Komplexität:

1. Interaktionssystem
2. Organisationssystem
3. Funktionssystem

Das Ensemble dieser Systeme bildet in ihrer jeweiligen historischen Zusammensetzung die Gesellschaft. Ganz im Sinne Luhmanns ist diese Zusammenstellung aber keineswegs hierarchisch oder summativ zu sehen, sondern stets nur als Charakterisierung möglicher unterschiedlicher Systemzusammensetzungen zu betrachten.

In der Systemtheorie nach Luhmann gibt es einige Begrifflichkeiten die eine prominente Stellung einnehmen. (1) Komplexität; (2) Kontingenz; (3) Sinn; (4) Kommunikation und Handlung; (5) funktionale Differenzierung; (6) Inklusion und Individualität.

(1) Aufgrund dessen, dass der Systemtheorie die System/Umwelt Differenz vorangestellt ist, weist die Systemtheorie einen hohen Umweltbezug (=Welt) auf. Daraus ergibt sich das wichtigste Merkmal der Systemtheorie: die Komplexität. Um ein System erklärbar und betrachtbar zu machen, muss stets eine Reduktionsleistung erbracht bzw. vorangestellt werden. Das heißt eine Beschreibung von einem gesellschaftlichen System kann nur und muss auch immer eine Selektion aus mehreren komplexeren Möglichkeiten sein. Wobei es sich dabei aber keineswegs um eine Leistung des wissenschaftlichen Beobachters handeln muss, sondern aus dem zu betrachtenden System selbst hervorgeht. Einzelne soziale Systeme schaffen eine derartige Reduktionsleistung durch z.B. emergente Kommunikationssysteme. Dadurch wird und kann eine höhere Komplexität abgebildet werden, als es einzelnen Individuen möglich ist bzw. bewusst sein kann.
Die Funktion von sozialen Systemen ist allgemein gesprochen somit die Reduktion von Komplexität. Insofern ist die Umwelt immer Komplexer als das soziale System selbst. Luhmann spricht in diesem Zusammenhang (Umwelt vs. Soziale Systeme) von einem Komplexitätsgefälle welches jeder System/Umwelt Differenz inhärent ist.

(2) Doppelte Kontingenz knüpft an der Komplexität an. Das Sein eines Systems wird dadurch bestimmt wie Systeme sind. „Operieren heißt existieren“. Insofern reduzieren Systeme die Weltkomplexität nach eigeninhärenten Maßgaben (Selektionsleistung) ohne „Letztrückversicherung“. Dadurch können Systeme auch immer grundlegend anders ausgebildet sein. Innerhalb der Kontingenz liegt die Veränderungsmöglichkeit von Systemen begraben. Ein Beispiel: Tradition als Selektionskriterium dient zur Stabilisierung und Verhinderung einer Eigenentwertung eines Systems, demnach das System immanent zu hinterfragen wäre und dementsprechend immer auch völlig anders zusammengesetzt sein könnte.

(3) In der Systemtheorie wird Sinn als Begriff in Kontrast und Gegensatz zu Instinkt oder dem Mechanismus von Maschinen verstanden. Sinn ist die grundlegende Ordnungsform für die „Welt“ (=Umwelt). Diese Grundlegung gilt sowohl für die psychischen als auch für die sozialen Systeme. Luhmann bezeichnet den Sinn als eine „autopoiesis par excellence“. Dadurch kann es niemals zu Sinnverlusten kommen, da sonst das Sinnsystem aufhören würde zu existieren. Ein System ohne Sinn ist nicht-existent. Sinn ist sowohl selbstreferentiell als auch selbstreproduktionell. D.h. Sinn produziert immer neuen und mehr Sinn und verweist – aufbauend – auf immer weitere Sinnzusammenhänge.
Der Begriff Sinn hat eine doppelte binäre Funktion in der Systemtheorie: Durch den Sinn wird die Komplexität reduziert aber gleichzeitig auch weiterhin verfügbar gemacht. Demnach bezeichnet Sinn ein einzelnes komplexitätsreduziertes „Etwas“, aber in der gleichzeitig stattfindenden Ausschließung von vielen anderen Dingen wird die Komplexität beibehalten. Einige Beispiel: Sinn von Haus schließt Garten, Wohnung, Hütte usw. zwar aus bringt aber gleichzeitig in Abgrenzung dazu eben auch diese Sinnhaftigkeiten hervor; Sinn von Schön schließt aus/bringt hervor Hässlich; Sauer/Süß usw. usw. usw…
Sinn/Systeme sind in dem Sinne immer relational konzipiert: Ständig muss es einen Anknüpfungspunkt zwischen Innen und Außen bzw. zwischen System und Umwelt geben.

(4) Einer der zentralsten und wichtigsten Begriffe der luhmann´schen Systemtheorie ist die Kommunikation und mit ihr einhergehend die Handlungen. Erst durch die Kommunikation können sich soziale Systeme und Gesellschaften überhaupt erst als solche konstituieren. Luhmann ist hier auch ausgesprochen rigide: „Nur was Kommunikation ist, kann auch Gesellschaft sein“. Und weiter: Das Individuum kann nicht kommunizieren und ist daher auch kein konstitutiver Teil der Gesellschaft. Individuen sind Teil vom „Leben“ (Bewusstsein). Luhmann trennt und unterscheidet strikt zwischen Gesellschaft und „Leben“. Das „Leben“ ist nach Luhmann „nur“ die Umwelt der Gesellschaft. Insofern kann Kommunikation und Bewusstsein immer nur als „Entweder-Oder“ gefasst werden. Beide Aspekte können niemals deckungsgleich sein. Die Kommunikation wird erst durch die Selektion von 3 Aspekten wirksam:

1. Selektion einer Information
2. Selektion einer Mitteilung
3. Selektion einer Form des Verstehens

Kommunikation sind Prozesse die sich als kommunikative Elemente aneinander reihen und dadurch Sinn ergeben. Das wird möglich – nicht wie ich zuerst vermutete durch die Kommunikationsstruktur an sich sondern – durch die autopoietische Synthetisierung der Selektion obiger 3 Selektionsmechanismen. Aus dieser Deutung wird die Struktur von sozialen Systemen erkennbar, demnach die Struktur in der Form von Kommunikationserwartungen begraben liegt. Durch die Bündelung solcher Erwartungen entlang von funktionaler Gesichtpunkte kommt es zur Ausbildung von Programmen.

(5) Die funktionale Differenzierung dient zu inhaltlichen Abgrenzung zwischen verschiedenen Systemen. Dieser Begriff konstituiert sich – soweit ich das verstanden haben – durch eine historische Entwicklung. Luhmann spricht daher von einer evolutionären Komplexitätsreduktion, die ohne jegliche außerhalb des Systems liegende Steuerungseinrichtungen auskommt. Stattdessen handelt es sich dabei um eine selbstkonditionierende Selektion. Drei Stufen der evolutionären gesellschaftlichen Differenzierung lassen sich nach dieser Lesart erkennen:

1. segmentäre Differenzierung
2. stratifikatorische Differenzierung (Leitdifferenz: Oben/Unten)
3. funktionale Differenzierung (seit Beginn des 20. Jhd.)

Aufgrund der Selbstkonditionierung gibt es bei der funktionalen Differenzierung keine zentrale Steuerung („keine Spitze, kein Zentrum“). Die Realität der modernen Gesellschaft zerfällt in Perspektiven (Kontexte) und ist in diesem Sinne „polykontextural“.

(6) Durch die Umstellung auf die funktionale Differenzierung ändert sich auch das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Individuum grundlegend. Dadurch meint der Begriff Individuum die Teilhabe an verschiedenen Funktionssystemen „ohne Ansehen der Person“. Identität wird somit durch die Inklusion an Funktionssystemen definiert. Jedoch ist der Begriff Individuum von der persönlichen Ich-Identität zu trennen. Die persönliche Identität muss stets durch die Eigenleistung zur Identität führen. Insofern ist die Identität ein ständiger „defizitärer Zustand“ gemessen an der Exklusion von Funktionssystemen. Die Identität verdeutlicht sich somit an der persönlichen „Unzufriedenheit“ an manchen Funktionssystemen nicht teilhaben zu können.

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